60 Jahre ist es nun her, als am frühen Morgen Sicherheitskräfte der DDR die Sektorengrenze in Berlin abriegelten. Am 13. August 1961 wurde mit dem Bau der Mauer begonnen. Hohe Stacheldrahtzäune wurden gezogen, Pfähle eingerammt und aus Pflastersteinen erste Barrikaden errichtet. Der Übergang von Ost nach West war versperrt, die Stadt in zwei Hälften geteilt. Ein Mann, der den Mauerbau nah miterlebt hat, ist Joachim Kraus. Heute sitzt er mit seinen 72 Jahren mit vielen schwarz-weiß Fotos an seinem Küchentisch in Grombühl. Damals hat er als Kind jede Sommerferien bei Oma und Tante in Zernsdorf am Krüpelsee verbracht. Eine Schilderung, wie er die Anfänge des Mauerbaus als 13-Jähriger erlebt hat.
Aufenthaltsgenehmigung und Einreisebestimmungen standen an der Tagesordnung
Die sechste Klasse Volksschule ist erfolgreich absolviert, ab September geht es dann auf die Mittelschule, aber nun sind erst einmal Sommerferien. Bereits vor 14 Tagen wurde eine "Geschenksendung, keine Handelsware" mit Schinkenspeck, Dauerwurst, Kaffee und Filterpapier, Schokolade, Tee sowie Zigaretten als Zweitwährung nach "Drüben" abgeschickt. "Drüben", das ist in Joachim Kraus' Fall Zernsdorf, ein Stadtteil von Königs Wusterhausen in Brandenburg.
Jeden Sommer verbringt der kleine Joachim dort seine Ferien bei Oma und Tante. Aufenthaltsgenehmigung und Einreisebestimmungen sind vor einigen Tagen per Post in Würzburg eingetroffen. Der Koffer ist gepackt, die Papiere mit Kinderausweis und Fahrkarte nach Berlin-Stadtbahn im Umhängebeutel verstaut.
Die Eltern bringen ihn am Abend zum Zug nach Bamberg, letzte Ermahnungen, Abfahrt, Winken. In Ludwigsstadt gehen während der Kontrolle durch bayerische Grenzer die Schwestern der Bahnhofsmission mit Tee durch die Abteile. Dann wird es still im Zug. Bei Falkenstein überquert er die Zonengrenze, "man merkte es sofort, das rhythmische Tam-Tam der Schienenstöße begleitete ab hier unsere Fahrt", erinnert sich Kraus heute. Die Stadtgrenze von Berlin wird passiert, wenig später hält der Zug am Ostbahnhof. Endhaltestelle. "Noch ahnte ich nicht, dass es in meinem Leben für lange Zeit das letzte Mal gewesen ist, dass ich mit einem Interzonenzug im Ostbahnhof angekommen bin", erzählt Kraus.
Fünf Wochen Sommerferien erwarten den Jungen bei Oma und Tante
Tante Illa holt den 13-Jährigen vom Bahnhof ab. "Oma wartete schon seit zwei Stunden am Gartenzaun", so Kraus. "Junge, wat biste jroß jeworden" - und nach herzlichem Drücken und Küssen - "Du bist ja janz schwarz vom Dampflokruß".
Fünf Wochen Sommerferien erwarten den Jungen bei Oma und Tante. Jeden Tag im See schwimmen, Radausflüge in die nähere Umgebung und zwei, drei Dampferfahrten. Am vierten Tag geht es nach Berlin Wedding, im Westteil der Stadt, auf Besuch zu Tante Puppi. Nicht ahnend, dass dies der letzte Tagesbesuch im Westteil der Stadt Berlin bis zur Wende 1989 für die Tante war.
Mit der Mauer sollen die Grenzen unüberwindbar gemacht werden
Ein schöner, warmer Sonntagmorgen war dieser 13. August 1961, erinnert sich Kraus. "Aufstehen, Frühstück, für Oma zwei Eimer Wasser von der Pumpe im Garten holen, dann schwimmen, im Garten spielen, wieder schwimmen." Irgendwann fällt ihm auf, dass sich seit dem Frühstück weder Oma noch Tante blicken ließen. Wenig später entdeckt er die beiden in der Stube, im verdeckten Eck hinter dem Kachelofen sitzen sie mit den Ohren nahe am Radio. "Psst, sei still", sagen beide und lauschen den Nachrichten. Tante Illa schimpft leise, aber wütend: "Diese Schweine, alles Verbrecher." Kraus' Oma schüttelt den Kopf. Tränen schießen ihr in die Augen. Der junge Joachim wird hinausgeschickt.
Wenig später versucht Tante Illa, dem Kind die bisherigen Tagesereignisse beizubringen. "Der Ulbricht und seine Genossen bauen quer durch Berlin eine Mauer, damit keiner mehr nach Westberlin abhauen kann. Wer da rüber will, wird erschossen, Westberlin wird abgeriegelt", erklärt sie dem Kleinen. Walter Ulbricht war ein deutscher Kommunist. Von 1950 bis zu seiner Entmachtung 1971 war er der maßgebliche Politiker der DDR. Der kleine Joachim versteht zuerst nicht, was Tante Illa da sagt. "Es wird doch ohnehin rund um Berlin überall kontrolliert, wozu dann eine Mauer?" Erst später wird er verstehen, dass mit der Mauer die Grenzen unüberwindbar gemacht werden sollen.
Eine Abfahrt vom Ostbahnhof gibt es nicht mehr
Die letzten Ferientage vergehen. Nach dem Abmelden beim Rat des Kreises am 25. August geht es am nächsten Tag mit der S-Bahn zur Friedrichstraße – eine Abfahrt vom Ostbahnhof gibt es nicht mehr. Vor dem Bahnhof heißt es Abschied nehmen. "Oma fürchtete, es sei für immer. Sie glaubte nicht, dass ich jemals wieder in den Ferien zu ihr kommen kann, sie fürchtete zu sterben, ohne mich jemals wieder zu sehen", erzählt Kraus. Dicke Tränen kullerten ihre Wange herunter. "Vergiss mich nicht", sagt sie.
Die Tür schließt sich hinter Kraus, er fühlt sich hilflos in dem kahlen Raum, in den er geschickt wurde. Provisorische Bretterverschläge und Ziegelmauern trennen frühere Durchgänge ab. Ein Grenzer studiert seinen Kinderausweis, er wird von oben bis unten gemustert. Die Aufenthaltsgenehmigung wird mit allen Eintragungen und Stempeln vom Rat des Kreises genau studiert. Wieder knallen Stempel, die Papiere werden den Jungen in die Hand gedrückt.
Dank wochenlanger Vorbestellung hat Joachim Kraus eine Platzkarte für den Zug ergattert. Der Lautsprecher fordert: "Türen schließen", langsam rollt der Zug aus der Halle heraus. "Ich beugte mich weit aus dem Fenster, winkte mit einem großem, blauen Taschentuch", so Kraus. Oma und Tante stehen währenddessen am Reichstagsufer, winken zurück, bis hinter der Spree die nächste Häuserzeile den Blick verdeckt.
In Drewitz dauert die Kontrolle wesentlich länger und ist noch schärfer als bisher. Unterwegs fällt dem 13-Jährigen auf, dass der Zug nicht über Leipzig, sondern über Halle (Saale) fährt. An keinem der bisherigen Haltebahnhöfen wird gestoppt. Und wenn der Zug auf einen Gegenzug warten muss, wird er sofort von bewaffneten Posten umstellt. Wieder Zuhause in Würzburg muss der Junge viele Fragen beantworten. Und: "Sehr, sehr, sehr viel erzählen."
Ausflüge nach Westberlin waren nicht mehr möglich
"Ich fuhr weiterhin in den großen Ferien, später dann im Sommerurlaub stets zu Oma und Tante, immer im Nachtzug, immer über Probstzella", sagt Kraus heute. Die Grenze DDR – Westberlin wurde ab sofort am Grenzkontrollpunkt Griebnitzsee passiert, Friedrichstraße blieb Endbahnhof. Ausflüge von Zernsdorf nach Westberlin waren nicht mehr möglich.
"Doch dann …", erzählt Kraus, "… Sommerurlaub 1990." Mit dem Zug über Probstzella: keine Kontrolle , keine Papiere, keine Stempel. Ankunft in Flughafen Schönefeld, mit der S-Bahn nach Königs Wusterhausen, mit dem Nahverkehr nach Zernsdorf: kein Zwangsumtausch, keine Aufenthaltsgenehmigung, kein Anmelden. Joachim Kraus fühlt sich unbeschwert, lächelt, während er in der Bahn sitzt. "Alles ganz anders als jemals zuvor", sagt er. Doch eines blieb bis zuletzt: "Ein erholsamer Sommerurlaub in Zernsdorf am Krüpelsee."