Am Abend des 10. November 1989, einen Tag nach dem Mauerfall in Berlin, klingelt bei Bernd Höland am Heuchelhof das Telefon. Am anderen Ende ist ein Polizeibeamter. Am Residenzplatz seien viele Menschen aus der DDR, darunter eine junge Familie mit einem Kleinkind. Ob die Hölands die Familie nicht aufnehmen könnten?
Dass die Polizei ausgerechnet bei Bernd Höland anruft, ist kein Zufall. Der damals 42-Jährige hatte Ende 1988 den Freundeskreis Würzburg-Suhl ins Leben gerufen. Damals war nicht abzusehen, dass die deutsch-deutsche Grenze Ende des folgenden Jahres offen sein würde. Hölands Idee: Würzburger laden Menschen aus Suhl ein und beherbergen sie. Denn Rentner aus der DDR durften auch vor dem Mauerfall in den Westen reisen, aber eben nur auf Einladung.
Dass der Aufruf von vor einem Jahr einmal eine ganz andere Bedeutung haben würde, damit hat auch der Chef des Freundeskreises nicht gerechnet. Am Abend des 10. November gilt es jedoch zu handeln. Für Höland, der 1961 aus Erfurt nach Würzburg kam, gibt es nach dem Anruf kein langes Überlegen: Natürlich kommt die Familie bei ihm unter. "Ich habe mich ins Auto gesetzt und bin runter zur Residenz gefahren. Zu der Familie habe ich gesagt: Fahren Sie einfach hinter mir her", erinnert er sich heute.
Deutsch-deutsche Begegnung mitten in der Nacht
Die Hölands haben damals am Heuchelhof gerade frisch gebaut, die Dreizimmer-Wohnung ist schon fertig, die Einliegerwohnung noch nicht. Aber das macht nichts: Die dreiköpfige Familie aus der DDR bekommt das Schlafzimmer. Kaum ist die Übernachtung vorbereitet, klingelt wieder das Telefon: Da wäre noch ein Pärchen, ob Bernd Höland die jungen Leute nicht auch noch beherbergen könnte? Klar doch. "Nachbarn haben uns zwei Betten gegeben, die haben wir in den Keller gestellt. Damit waren die Beiden auch untergebracht." Der deutsch-deutsche-Abend am Heuchelhof ist damit aber noch nicht zu Ende. Kurz vor Mitternacht klingelt es an der Tür. Davor steht Hölands Neffe aus der DDR. "Da war für uns Heiligabend. Es war eine Stimmung, den Abend vergesse ich nie!"
Dass die Nacht kurz wurde, kann man sich denken. Für Höland ist am Samstag, 11. November 1989, an Ausschlafen nicht zu denken - und nicht nur für ihn. Denn jetzt rollt die Trabi- und Wartburg-Welle aus der DDR erst richtig an.
Jürgen Weber ist zu dieser Zeit zweiter hauptamtlicher Bürgermeister in Würzburg. Bei ihm klingelt am Samstagmorgen um sieben Uhr das Telefon. "Mich rief der Hausmeister aus dem Rathaus an. Der ganze Residenzplatz steht voller Trabis, und alle wollten wissen, wo das Rathaus ist." Denn die Besucher aus der DDR brauchten zunächst vor allem eines – ihr Begrüßungsgeld. 100 Mark gab es vom Bund, 40 Mark legte der Freistaat obendrauf. Und das Begrüßungsgeld wollten plötzlich Hunderte Menschen haben - an einem Samstagmorgen. "'Was machen wir jetzt?', habe ich mich gefragt. Wir waren doch auf alles vorbereitet, nur nicht auf so etwas!", erinnert sich Weber 30 Jahre später.
Geschäftsleute strecken der Stadt Geld vor
Am jenem Samstag ist vor allem unbürokratisches Handeln gefragt, um den Besuchern aus der DDR möglichst schnell das Geld auszahlen zu können. "Da funktioniert Verwaltung dann aber schon", sagt Weber im Rückblick. "Kurz nach acht hatten wir zehn oder 15 Mann zusammen, die das Geld auszahlen würden." Als schwierigeres Problem erweist sich die Beschaffung. Bürgermeister Weber muss es sich vorübergehend leihen. "In den ersten Stunden habe ich das meiste Geld gegen Quittung von Geschäftsleuten der Domstraße gekriegt."
Etwa zur selben Zeit bereitet der damals 53-jährige Georg Götz mit seinen Mitstreitern vom Main-Franken-Kreis die Martini-Kirchweih vor. Weil am Marktplatz gebaut wurde, findet die Kirchweih ausnahmsweise auf dem Domvorplatz statt. Bürgermeister Weber soll das Fest eigentlich um zehn Uhr eröffnen, aber dazu kommt er erst zwei Stunden später. Inzwischen ist die Stadt voll von Besuchern aus der DDR. Georg Götz schickt Vereinsmitglieder zum Residenzplatz. "Wir haben die Leute eingeladen, zu uns zum Fest zu kommen. Und natürlich haben wir sie mit Zwiebelkuchen und Wein versorgt. Es gab viele Gespräche, überall herrschte Freude." Auf den Ansturm zur Martini-Kirchweih war der Main-Franken-Kreis allerdings auch nicht vorbereitet. "Wir haben noch Brot nachgekauft, das hat es dann mit angemachtem Käse gegeben."
Spontane Hilfe aus der ganzen Stadt für die Besucher aus der DDR
Überall in Würzburg helfen an diesem Tag spontan Menschen, um den Besuchern aus der DDR den Aufenthalt in Würzburg so schön wie möglich zu machen. Geschäftsleute und Gastwirte zeigen sich spendabel, Vereins- und Pfarrheime sperren die Türen auf, Würzburger laden DDR-Bürger zu sich nach Hause ein. Bei allem Trubel wirkt das Geschehen ab und zu unwirklich, auch für den damals 44-jährigen Jürgen Weber. "Für viele stellte sich an dem Tag immer wieder die Frage: 'Gibt's das?'" Aber es stimmte, auch die Grenze zwischen Thüringen und Franken war jetzt offen.
Für den Main-Post-Journalisten Roland Flade, damals 38 Jahre alt, ist die DDR kein unbekanntes Land. Als Mitglied der Lokalredaktion Würzburg berichtet er über die seit 1988 bestehende Städtepartnerschaft zwischen dem thüringischen Suhl und Würzburg und hat sich in dieser Eigenschaft auch auf den Weg in die neue Partnerstadt und die Region gemacht. "Ich hatte im September 1989 in Oberhof Urlaub gemacht, ich kannte Leute vom Neuen Forum in Suhl und Kollegen vom 'Freien Wort' (SED-Bezirkszeitung in Suhl - d. Red.), die habe ich damals besucht", berichtet er 30 Jahre später.
Am Wochenende nach dem Mauerfall hat er Sonntagsdienst in der Redaktion. Was das Thema der Lokalausgabe am Montag bestimmen wird, darüber gibt es keinen Zweifel. "Gerade für mich war dieser Sonntagsdienst natürlich etwas ganz Besonderes." Fast eine ganze Lokalseite beschäftigt sich am 13. November 1989 mit dem Geschehen vom Wochenende. Schlagzeile: "Über 2400 DDR-Bürger kamen zur Stippvisite nach Würzburg". Flade telefoniert auch mit Bernd Höland, beide kennen sich gut. "Praktisch rund um die Uhr kümmerte er sich um die Suhler", schreibt Flade in einem Beitrag für die Montagsausgabe.
Freundeskreis vermittelt in wenigen Wochen 4500 Übernachtungsöglichkeiten
Bernd Höland kommt in den Tagen und Wochen nach dem Mauerfall in der Tat nicht zur Ruhe. Der Freundeskreis erhält einen Raum im Rathaus. Von hier aus vermitteln Höland und seine Mitstreiter rund um die Uhr Übernachtungsmöglichkeiten für DDR-Bürger. "Am Ende des Jahres 1989 hatten wir 4500 Leute untergebracht, in Würzburg und ganz Unterfranken" berichtet er.
Die Euphorie, die im Spätherbst 1989 Deutschland erfasst, ist auch in Würzburg spürbar. Für Bernd Höland, der sich noch gut an schikanöse Behandlung an den Grenzübergangsstellen erinnert, war es damals fast schon "unwirklich", dass man von Ost nach West und umgekehrt jetzt so problemlos kommt. Und Jürgen Weber, der 1990 Würzburger Oberbürgermeister werden wird, ist heute noch fasziniert von der Stimmung in der Stadt: "Es gab kein Gemecker und Gemoser. Diese Begeisterung war wirklich Wahnsinn."