Adriane war weg. Die freundliche, immer ein bisschen stille Adriane aus der Schule, die bei vielen Samstagabendfeten in maroden Gründerzeithäusern meiner Heimatstadt Halle dabei gewesen war, verschwand im Sommer 1989 ganz einfach. Adriane war jetzt im Westen. Adriane? Die sich nie groß geäußert hatte, die nie aufgefallen war? „Abgehauen?“ Ich konnte es nicht fassen.
Dabei hätte ich es ahnen können. Aus den Spielkameraden der 70er und den Schulfreunden der 80er Jahre waren junge Erwachsene geworden, die die ständigen Erfolgsberichte der „Aktuellen Kamera“ mit der bröckelnden Wirklichkeit in der Hallenser Innenstadt verglichen, die den „Wettlauf mit der Zeit“ (Titel einer TV-Reportagereihe über die DDR-Mikroelektronik) ein wenig anders auslegten, wenn sie täglich die üblen Rauch speienden Schlote der nahen Buna- und Leunawerke vor Augen hatten. Und dann war da eben noch die geschlossene Gesellschaft, als die sich die DDR seit dem 13. August 1961 ihren Bürgern präsentierte.
Die Mauer war für uns schlicht eine Tatsache
Für meine Generation, also die in den späten 60er Jahren in der DDR Geborenen, war sie einfach immer da gewesen, die Mauer, die nur Westberlin umschloss und dennoch zum Synonym für die ganze nach innen verriegelte Grenze des kleinen Landes DDR wurde. Mit dem Blick des Jahres 2018 lässt sich wohl kaum verstehen, wie man die ständig verschlossene Tür als Normalzustand ansehen konnte – und dennoch war es so, ein Ärgernis zwar, aber eben ein unabänderliches.
So empfand ich es zumindest, auch wenn ich mir so meine Gedanken machte – bei Besuchen in Berlin etwa. Wenn man auf dem Ostberliner S-Bahnhof Plänterwald auf den Zug wartete, war man mit dem Blick automatisch im Westen. Hier, wo der Westteil der Stadt mit seinen weißen Wohntürmen so nah war, konnte man den Westberlinern beinahe auf den Küchentisch schauen. Beim Springer-Hochhaus in der Westberliner Kochstraße war es ebenso, beim Blick durchs Brandenburger Tor glänzte weiter hinten schon die Siegessäule. So nah, so fern.
Doch irgendwann ging es immer wieder mit dem Zug zurück nach Halle und damit auch zurück in eine Dauerdebatte, wie sie wohl nur junge Menschen in der DDR führen konnten. Zwei Lager ließen sich Ende der 80er Jahre ausmachen: Die einen hatten die DDR aufgegeben, brachten dem Staat bestenfalls Desinteresse entgegen, die anderen wollten sich die Hoffnung nicht nehmen lassen. Zu Letzteren gehörte ich. Warum nicht den frischen Wind aus Moskau nutzen und ihn in die Lunge des erstarrten Staates pumpen? Warum nicht die Idee einer solidarischen, gerechten Gesellschaft von den hohlen Phrasen befreien, die allenthalben als Losungen auf den Transparenten prangten?
Der Wunsch nach coolen Schallplatten
Natürlich guckte ich Westfernsehen, natürlich streifte ich lieber eine Levi's über als eine Jeans aus dem VEB Kombinat Jugendmode. Und natürlich wollte ich mit 18 Jahren vor allem eines: coole Schallplatten! Aber „nach drüben“ zu gehen, die Freunde zurückzulassen und die Ideen sowieso, das war für mich keine Option.
Für Adriane war es eine, für manche andere auch. Das war der Riss, der durch die Gruppe derer ging, die sich – so oder so – einen Kopf machten um dieses Land. Und jeder, der ging, war einer weniger von denen, die „sich gern mit uns stritten, / Mit uns lachten und litten / Die das Fernweh fortwehte / Die der Wohlstand verdrehte / Die 'ne Lippe riskierten, irgendwann resignierten / und zogen den trennenden Strich . . .“, wie es der Liedermacher Gerhard Schöne 1989 noch vor dem Mauerfall in seinem Lied „Das weiße Band“ beschrieb.
1989, das war für mich zunächst aber vor allem eines: Wehrdienst in der NVA. Wer in der DDR irgendwas „Besonderes“ studieren wollte, der war tunlichst zum längeren Dienst als nur die obligatorischen 18 Monate angehalten. In meinem Fall war das angestrebte Journalistik-Studium der Grund, weshalb ich nach einjähriger Ausbildung im August 1989 bei der Truppe irgendwo in einem Wald bei Schwerin landete, wo ich die nächsten drei Jahre hätte bleiben sollen.
Historisches Pech
Der Wehrdienst war auch „schuld“, dass ich den Mauerfall heute vor 28 Jahren, zwei Monaten und 26 Tagen schlicht verpasste. Wenn man ausgerechnet vom 8. bis 10. November 1989 einen Zugtransport zu begleiten hat, der dann einen vollen Tag lang – am 9. November – auf freier Strecke in der mecklenburgischen Einöde stehen bleibt, dann wird Weltgeschichte eben auch mal ohne einen gemacht, historisches Pech sozusagen.
Merkwürdigerweise hat mich dieser Umstand damals wenig berührt, was daran lag, dass schon vor dem 9. November eine atemberaubende Entwicklung in der DDR eingesetzt hatte. Praktisch jeden Tag passierten Dinge, die man kurz zuvor noch für völlig unmöglich gehalten hatte: Minister stellten sich öffentlichen Diskussionen, bislang unantastbare Funktionäre rechtfertigten sich, neue politische Organisationen gründeten sich am laufenden Band. Nur die Diskussionen, die wir noch vor kurzem so leidenschaftlich geführt hatten, waren über Nacht nichts als kalter Kaffee.
Der Grenzer schaute nur noch kurz in den Ausweis
Dennoch wollte auch ich natürlich endlich den Blick hinter die Mauer werfen, und das erwies sich für mich schwieriger als für die meisten DDR-Bürger. Mit einem Wehrdienstausweis kam man nämlich nicht über die Grenze, Mauerfall hin oder her. Es dauerte zwei Wochen, bis ich endlich meinen normalen Personalausweis zurückbekam – am 23. November, wie ein Eintrag verrät. Zwei Tage später, an einem Samstag, schlüpfte ich dann von Berlin-Mitte nach Kreuzberg durch die Mauer. Vieles von diesem Tag habe ich vergessen, aber diesen einen Moment habe ich heute noch vor Augen: Ein Grenzer schaute nur kurz in den Ausweis, dann setzte ich mit einem Kribbeln im Rücken meinen Fuß auf Westberliner Boden und damit in eine andere Welt. Nur der Himmel darüber war derselbe. Am Abend ging es zurück auf die andere Seite. Von den 100 D-Mark Begrüßungsgeld hatte ich rund 30 Mark bereits gut angelegt – in zwei BAP-Platten.
Heute weiß ich, wie sehr mich diese Tage und Wochen geprägt haben
Heute frage ich mich oft, ob ich die Wochen rund um den Mauerfall nicht noch viel intensiver hätte erleben müssen. Aber wie das bei deutschen Revolutionen so ist: Sie finden nach Feierabend statt, ansonsten geht der Dienst weiter. Auch bei mir war das so, erst Ende April 1990 konnte ich die Uniform an den Nagel hängen. Zuvor hatte ich noch wortreich vor einer Kommission die „Entpflichtung“ vom Wehrdienst begründen müssen, obwohl der Verteidigungsminister da schon Rainer Eppelmann hieß und obwohl nach jedem Wochenende Soldaten nicht mehr zum Dienst erschienen, weil sie irgendwo im Westen geblieben waren.
28 Jahre nach Günter Schabowskis ins Mikrofon gestotterter Grenzöffnung weiß ich, wie sehr mich die Tage und Wochen damals geprägt haben. Fast täglich konnte man Lehren fürs Leben sammeln, wenn man wollte.
Eine davon lautet: Lass dir nie wieder irgendwas vormachen! Man muss es eben einfach erlebt haben, dass ein Vorgesetzter, der bis gestern nicht laut genug seine Treue zur DDR bekunden konnte, am nächsten Morgen mit einem Aufkleber der „Allianz für Deutschland“ am Koffer durchs Kasernentor geht – und so tut, als wäre nichts gewesen. Die Skepsis, die ich damals gegen weltanschauliche Gewissheiten aller Art entwickelt habe, ist geblieben, und ich bin mir sicher: Sie schadet nicht.
Ein halbes Leben hier - ein halbes Leben dort
Der heutige 5. Februar 2018 wird „Zirkeltag“ genannt, weil die Mauer genauso lange weg ist, wie sie einst stand. 2018 ist für mich persönlich aber auch ein Zirkeljahr. 1993 habe ich meine Heimatstadt Halle verlassen und bin nach Franken gezogen, in den Westen also, der damals durchaus noch so empfunden wurde. 1993 war ich 25 – heuer ist das 25 Jahre her. Das halbe Leben dort, das halbe Leben hier: Bin ich jetzt ein Ossi? Ein Wessi? Ein Wossi? Darüber zerbreche ich mir bestimmt nicht täglich den Kopf. Aber wenn ich meine Eltern besuche und mit meinem Würzburger Kennzeichen im halleschen Wohngebiet parke, dann bin ich für die Leute dort ziemlich sicher ein Wessi.
Und ich ertappe mich selbst dabei, dass ich manche ostdeutsche Befindlichkeit einfach nicht mehr verstehen kann.
Trotzdem habe ich zig Sachbücher und Memoiren zur DDR gelesen, trotzdem verpasse ich bis heute kaum einen Film, der sich um den untergegangenen Staat dreht. Und es regt mich immer noch richtig auf, wenn selbst in hochgelobten TV-Serien die immer gleichen Klischees abgespult werden und wenn man glauben soll, dass es in der DDR nur zwei Gruppen gab: tapfere Dissidenten und finstere Stasi-Leute, dazwischen vielleicht noch ein paar angepasste Ja-Sager.
Die Mauer, dieses Bauwerk der neueren deutschen Geschichte, ist bis auf ein paar museale Reste verschwunden. Was unbezwingbar und für die Ewigkeit gebaut schien, zerbröselte in ein paar Monaten in kleine Souvenir-Brocken.
Auch das ist eine Erkenntnis, die ich mir aus den Tagen nach dem 9. November 1989 bewahrt habe: Nichts bleibt, wie es ist.
Torsten Schleicher (49) ist Leiter der Lokalredaktion Würzburg der „Main-Post“. Er wurde in Halle an der Saale geboren und lebte dort bis 1993. Seinen Eltern ist Halle bis heute Heimat.