Es gibt Menschen, die ihre Würde nie verlieren, sie nie aufgeben. Egal, was passiert. Es gibt Menschen, die den Glauben an das Gute im Menschen nicht verlieren, obwohl sie mit eigenen Augen gesehen haben, wie schnell das Böse übernehmen kann. Und obwohl sie am eigenen Leib erfahren haben, wie grausam Menschen zu anderen Menschen sein können. Ahmad Shah Mirdad (66) ist einer dieser beeindruckenden Menschen. Er ist mit Teilen seiner Familie aus Afghanistan geflohen, lebt jetzt in der Flüchtlingsunterkunft im Kloster Heidenfeld.
Hochrangige Positionen in afghanischen Regierungen und bei den Vereinten Nationen
Unterhält man sich mit ihm, wird einem klar, wie oft Afghanistan Spielball unterschiedlicher Mächte war und ist. Russen, Mudjahidin, Taliban, Amerikaner, Taliban. Ahmad Shah Mirdad hat alle diese Wechsel erlebt. Er hat politische Wissenschaften und Jura (auch in Moskau) studiert, hatte hochrangige Positionen in der jeweiligen afghanischen Regierung und bei den Vereinten Nationen. Unterbrochen von Folter, zwei Jahren im Gefängnis, Todesdrohungen.
Ahmad Shah Mirdad ist es gewohnt, über seine Arbeit zu sprechen, zu schildern, was ihn bewegt und beschäftigt. Wie er es schafft, dass man sofort vergisst, dass man in einem kleinen Zimmer zwischen Waschbecken und Betten in einer Flüchtlingsunterkunft sitzt, ist wohl Teil seiner Persönlichkeit. Die Atmosphäre, die Professionalität, wäre nicht anders, hätten wir uns in einem schicken Büro getroffen.
Mit dabei beim Gespräch: Stefan Menz vom Helferkreis. Er kennt die Familie Mirdad ziemlich gut, hilft ihnen zusammen mit anderen vom Helferkreis beim Eingewöhnen. An diesem Nachmittag erfährt er auch noch Dinge, die er noch nicht über Ahmad Shah Mirdad gewusst hat. Was ihm die Taliban angetan haben, zum Beispiel. Der 66-Jährige zeigt auf seinem Handy ein Röntgenbild von einer, laienhaft ausgedrückt, heftig zusammengetackerten Wirbelsäule. "Das Bild habe ich dabei, falls ich es mal einem Arzt zeigen muss." In den zwei Jahren im Gefängnis hat er auch einen Zahn verloren. Warum ihn die Taliban genau eingesperrt haben, weiß er übrigens nicht. "Sie haben mich nie etwas gefragt. Sie haben mich nur gefoltert."
Im Justizministerium war Ahmad Shah Mirdad für Rechte der Gefangenen zuständig
Wie das Schicksal so spielen kann, musste er dann später, als er im Justizministerium für eine andere Regierung für die Einhaltung der Menschenrechte in afghanischen Gefängnissen zuständig war, dafür sorgen, dass es demjenigen gut geht, der ihn zuvor ins Gefängnis gesteckt hat. "Ich habe ihn mehrmals in der Woche besucht, um zu schauen, dass es ihm gut geht." Wer an Gesetz, Recht und Menschenrechte glaubt wie Ahmad Shah Mirdad, hält so etwas für normal. Es ist trotzdem ein Moment, an dem man als Zuhörer schon mal schlucken muss.
Für Frauenrechte, für die Sicherheit von Frauen, gegen Gewalt gegen Frauen hat sich Ahmad Shah Mirad eingesetzt. Das lag und liegt ihm am Herzen. Es macht ihn verzweifelt, dass mit der Machtübernahme der Taliban Mädchen und Frauen von Bildung ausgeschlossen sind. Eine seiner Töchter hat politische Wissenschaften studiert, die andere stand kurz vor dem Abitur. Ob sie jemals zurückgehen werden oder überhaupt können? Das hält er im Moment nicht für möglich. Trotzdem sagt er: "Ich hoffe, wir können eines Tages wieder zurückgehen."
Was er hört aus Afghanistan, was ihm Leute an Fotos, Videos, Berichten weiterleiten unter dem Schutz eines erfundenen Namens ("Ich weiß, wer die Leute sind"), ist heftig. Fotos von getöteten Männern, oft waren sie früher Polizisten oder beim Militär, übersät mit Striemen und Blutergüssen. Ahmad Shah Mirad erzählt von gezielten Tötungsaktionen. "Das sind keine Menschen, das sind Tiere", sagt er über die Männer, die jetzt das Sagen haben in Afghanistan.
Er zeigt auf seinem Handy ein Video, in dem ein Mann erschossen wird. Er war auf dem Heimweg von einem Krankenhaus, das erzählt er den Bewaffneten, die ihn aufhalten und ausfragen. Sie glauben ihm nicht. "Du kommst von den Ausländern", übersetzt Ahmad Shah Mirad, was auf dem Video zu hören ist. Er hat noch nicht ausgeredet, da fallen im Video schon die Schüsse und töten den Mann. Da kämpft nicht nur Ahmad Shah Mirdad mit den Tränen.
Er traut sich das alles auszusprechen und anzuprangern, unter seinem Namen und mit seinem Foto im Zeitungsartikel. "Ich bin nicht mehr dort." Aber die langen Jahre, in denen er sich für die Menschenrechte eingesetzt hat, sollen wohl nicht vergebens sein.
Die Welt soll erfahren, was in Afghanistan passiert
Die Welt soll erfahren, was passiert. Dass viele Menschen keine Rente bekommen, Not leiden. "Sie sagen, Du bekommst nichts, weil Du für die Ausländer gearbeitet hast." Minderheiten, ethnische und religiöse, werden massiv unterdrückt, verlieren ihren Besitz. Frauen und Mädchen gelten als Besitz, werden als Kinder verheiratet. "Schrecklich", sagt er.
Der 66-Jährige ist weiterhin aktiv für Menschenrechte, hat Kontakt mit den Vereinten Nationen, ist gefragt, als Gesprächspartner und Kenner. Nur kann er nicht immer an den Zoom-Treffen und internationalen Gesprächsrunden teilnehmen. Es gibt kein WLAN in der Unterkunft in Heidenfeld. Alles ohne WLAN übers Handy zu machen, ist instabil und teuer, sagt er. WLAN wäre auch hilfreich, um Deutsch zu lernen. Oder als Übersetzungshilfe. Das macht alles etwas komplizierter. Ahmad Shah Mirad sieht aber das Gute, wie so oft. "Uns geht es hier besser als vielen anderen."