
Auf den ersten Blick überraschend fiel das Urteil im Prozess gegen einen Mann aus dem Landkreis Bad Kissingen aus, der sich vor der 1. Großen Strafkammer am Landgericht Schweinfurt verantworten musste. Angeklagt waren neun Vorfälle, die meisten in den Jahren 2023 und 2024. Es ging um Körperverletzung, Verleumdung, Nachstellung, Beleidigung und Sachbeschädigung. Und dennoch: Freispruch.
Der Mann leidet an einer paranoiden Schizophrenie und soll die Taten im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit begangen haben. Das Urteil "ist zwar ein Freispruch und im Ergebnis wäre es das Beste gewesen, wenn wir den Angeklagten irgendwie unterbringen könnten", so die Vorsitzende Richterin. Dennoch sehe die Große Strafkammer die rechtlichen Voraussetzungen für seine unbefristete Unterbringung in der Psychiatrie "nicht oder noch nicht als gegeben an". Der Mann wurde noch am selben Tag aus der Psychiatrie entlassen.
Die Richterin erklärte, auch in Richtung des Angeklagten gewandt, sie verstehe, dass die Bürger der Kleinstadt im Landkreis Bad Kissingen, in welcher der Angeklagte Erwachsene wie Kinder geschlagen, beleidigt, beschimpft und bedroht habe, Angst haben, "dass Sie irgendwann mehr machen als nur rumzuschreien und zu schubsen".
Nur der Hausfriedensbruch im Rathaus führte zu einer Verurteilung
Die in der Anklageschrift aufgelisteten Taten selbst waren unstrittig. Der 35-Jährige soll unter anderem zwei achtjährige Buben angepöbelt sowie leicht geschlagen und getreten haben. Ferner soll er die Betreuerin einer Einrichtung, in der er untergebracht war, bedroht und eine Bäckerei-Bedienstete, ebenso den Vermieter seiner Wohnung, beschimpft haben. Dort soll er im Sommer 2023 auch ein Fenster demoliert haben. Einen Rathaus-Mitarbeiter soll er wüst beleidigt und verleumdet und ihn mit dem Handy ins Gesicht geschlagen haben. Außerdem soll der Angeklagte das Rathaus auch noch betreten haben, als er hier schon Hausverbot hatte: ein Hausfriedensbruch.
Letzteres war der einzige der neun Punkte der Anklageschrift, für den der Mann verurteilt wurde – zu einer Geldstrafe von zehn Tagessätzen à zehn Euro: 100 Euro. Bei allen übrigen Straftaten, begangen zwischen Januar 2021 und Mai 2024, wurde er freigesprochen, weil nach dem Ergebnis des psychiatrischen Sachverständigen nicht ausgeschlossen war, dass der Mann sie im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen habe. Der Angeklagte selbst bestritt die Übergriffe auf sein Umfeld, sondern sah sich als Opfer von Unrecht und Nachstellung.
Psychiater, Staatsanwalt und Verteidigerin befürworten Unterbringung
Der Psychiater hatte dem Angeklagten als führende Erkrankung eine paranoide Schizophrenie attestiert, ferner leichte Intelligenzminderung sowie eine dissoziale Persönlichkeitsakzentuierung. Die Symptome seien seit 2016 festgestellt und überdauernd. Bei allen Taten außer dem Auftritt im Bürgerbüro nach dem Hausverbot sei die Schuldfähigkeit des Angeklagten infolge seiner Erkrankung sicher vermindert, möglicherweise aber auch ganz aufgehoben gewesen.
Der Mann habe keine Krankheitseinsicht und lehne eine Medikation ab. Dass es zu ähnlichen Taten auch in der Zukunft kommen würde, sei höchst wahrscheinlich. Aus Sicht des Psychiaters lägen die Voraussetzungen zur Unterbringung des 35-Jährigen in einem psychiatrischen Krankenhaus vor. Das sieht auch der Staatsanwalt so. Die Voraussetzungen für diese Unterbringung seien zwar hoch, es brauche dafür "erhebliche Anlasstaten", die aber in Form etwa der Körperverletzungen gegeben seien: "Letztlich ist er unberechenbar", so die Sicht des Staatsanwalts. Wie er sah sogar die Verteidigerin die Voraussetzungen für eine Unterbringung als gegeben an, wenngleich die Taten "im unteren Bereich" angesiedelt seien und eine Gefahrenprognose "schwierig" sei.
Doch die 1. Große Strafkammer folgte dieser rechtlichen Einschätzung nicht, sondern entschied auf Freispruch. Aus Sicht der Kammer seien die Taten und deren Folgen eben nicht schwerwiegend genug und die Gefährlichkeitsprognose zu unkonkret. Damit seien aus Sicht des Gerichts die rechtlichen Voraussetzungen für eine Unterbringung des Angeklagten nicht gegeben.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, es kann Revision eingelegt werden.
Was genau meinen Sie damit? Sie scheinen ein Informationsdefizit zu haben, was meine Person angeht.
Bei der Frage bitte dranbleiben.
Genau so ist es. Den Richtern muss man hier ein tiefes Verständnis für den Rechtsstaat und für Verhältnismäßigkeit bescheinigen - und "Zivilcourage".
Dass selbst die "Verteidigerin" - vermutlich Pflichtverteidigung? - eine "Unterbringung" befürwortet, ist bizarr.
In einem Rechtsstaat sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass derart banale Ausraster und das "Unwohlsein" einer Dorfbevölkerung kein Anlass sein können, einen Menschen wegen "Gefahr für die Allgemeinheit" dauerhaft nach § 63 StGB solange in die Forensik zu sperren, bis irgendein Gutachter den "Mut" hat, eine positive Prognose zu stellen: nach 10, 15. 20 Jahren.....
stellen Sie sich mal vor, Sie sind ein Kind und werden von einer solchen Person (möglicherweise sogar tätlich) angegangen.
Einen solchen kranken (und uneinsichtigen) Menschen unbehandelt und unbeaufsichtigt schalten und walten zu lassen geht mMn gar nicht. Wenn er Pech hat, gerät er mal an ein Gegenüber, das seinen Angriff nicht als banal empfindet und entsprechend (über)reagiert. Wenn das passiert, sind dann wohl beide per laissez-faire optimal von unserem Staat (dem mit dem Gewaltmonopol) vor einer Straftat gegen Leib und Leben geschützt worden?
Ich denke, so gedacht wie in diesem Fall ist zu einfach gedacht.
Die Taten sind nicht schwerwiegend und die „Gefährlichkeitsprognose“ ist unkonkret - das sage nicht ich sondern ein Gericht, das sich offenbar ausführlich mit dem Fall befasst hat. Und auch die 9 Monate „Unterbringung“ gemäß § 126a StPO ergaben offenbar nichts anderes. Das ist zu akzeptieren, wer sowas als „Täterschutz“ verhöhnt, siehe unten, hat keine Ahnung von der Realität der Forensik und offenkundig wenig Sinn für die Prinzipien des Rechtsstaats.
Und: es ist bekannt, dass Prognosegutachten in einer hohen Anzahl falsch-positiv sind und viele Menschen über Jahre zu Unrecht eingesperrt sind, ohne dass diese eine Gefahr darstellen. Nachzulesen bspw. bei Nedopil. Das deckt sich mit meinen Erfahrungen in der Forensik.
Hier sollte mal ein Strafantrag gestellt werden…