Maria Q. (Name geändert) kennt Depressionen sehr gut – und zwar von beiden Seiten, als Betroffene und als Expertin. Zehn Jahre litt sie unter einer schweren Depression. Sie erlebte Phasen tiefster Verzweiflung, wollte ihr Medizinstudium aufgeben und sich sogar das Leben nehmen. Heute arbeitet die 32-Jährige als Ärztin für Psychiatrie in einer Klinik in der Region. Mit Medikamenten und einer begleitenden Psychotherapie hat sie ihre Krankheit in den Griff bekommen.
Eine Psychiaterin mit einer psychischen Erkrankung? Das ist noch immer ein Tabu in der Gesellschaft. Generell werden psychische Erkrankungen bei Ärztinnen und Ärzten meist verleugnet. Dabei ist Maria Q. kein Einzelfall. Das Deutsche Ärzteblatt schreibt: "Jeder vierte Medizinstudierende leidet einer Meta-Analyse im US-amerikanischen Ärzteblatt (2016) zufolge unter Depressionen, jeder zehnte hatte sich sogar mit dem Gedanken an einen Selbstmord beschäftigt. Nur die wenigsten begaben sich jedoch in Behandlung."
Akademische Ausbildung mit sehr umfangreichem Lehrstoff
Das Medizinstudium gehört zu den akademischen Ausbildungen mit dem umfangreichsten Lehrstoff. Das Curriculum ist durchsetzt von zahlreichen Prüfungen, die alle bestanden werden müssen. Die vielen Praktika sind mental und körperlich herausfordernd, der Leistungsdruck hoch.
"Im Arztkittel stecken oft Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen", weiß die 32-Jährige. Geredet werde darüber leider aber nicht. Denn die meisten Menschen hätten ein Bild vom Arzt im Kopf, das absolut ideal und perfekt sei. "Es ist so schade, dass die Gesellschaft es nicht erlaubt, dass auch Ärztinnen und Ärzte psychisch krank sein dürfen." Maria Q. will deshalb ihre Geschichte erzählen und damit deutlich machen: "Ich trage zwar einen Arztkittel, aber der beschützt mich nicht vor Erkrankungen."
Es fing mit Konzentrations- und Gedächtnisproblemen an
Maria Q. hat ADHS. Adult-ADHS. Das heißt, die Krankheit wurde erst im Erwachsenenalter augenfällig. "Als Kind war ich zwar ein Zappelphilipp und hab' immer geplappert", erzählt die 32-Jährige. Das schrieb man aber ihrem südamerikanischen Temperament zu, denn in der Schule gab es keine Probleme. "Ich hatte immer gute Noten."
Damals lebte Maria Q. in Brasilien. Dort machte sie auch ihr Abitur. Mit 17 Jahren kam sie nach Deutschland, wo ihre Mutter einen neuen Lebenspartner gefunden hatte. Das war 2010. Schon als Kind wollte sie Ärztin werden. Um in Deutschland das Medizinstudium aufnehmen zu können, musste sie aber erst einmal die deutsche Sprache lernen und das Abitur in Deutsch nachholen. Die junge, ehrgeizige Frau schaffte das in zwei Jahren. 2012 begann sie in Würzburg ihr Medizinstudium. Von da an begann ihre Leidenszeit.
Es fing mit Konzentrations- und Gedächtnisproblemen an. Maria Q. verpasste Termine, vergaß Dinge, hatte Organisationsschwierigkeiten, bekam den Alltag nicht auf die Reihe. "Ich war total verpeilt." Dass sie ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom hatte, wusste sie nicht. ADHS bei Frauen kann auffällig unauffällig sein und wird oft nicht erkannt. So wie bei Maria Q.
Bei jungen Frauen treten die Symptome meist mit dem Auszug aus dem Elternhaus oder der Aufnahme des Studiums beziehungsweise einer Ausbildung auf. Gewohnte Strukturen brechen weg. Wo bis jetzt nur ein Zimmer in Ordnung gehalten werden musste, gilt es nun einen eigenen Haushalt zu stemmen und das Leben selbst zu organisieren. Für alle Menschen in diesem Alter ist das eine Herausforderung, für Menschen mit ADHS aber eine besondere.
Chaos im Kopf mit ausgeklügelten Strategien kompensiert
Die ersten Studienjahre an der Uni konnte Maria Q. ihr "Chaos im Kopf" noch mit ausgeklügelten Strategien kompensieren. Doch nach und nach fiel ihr das immer schwerer. Sie merkte: "Mit mir stimmt was nicht."
2016 ging sie dann zum Psychiater. "Ich wollte wissen, was mit mir los ist." Eine Antwort bekam sie nicht, sondern den Rat, eine Psychotherapie zu machen. Geholfen habe diese nicht, sagt sie, die Bewältigung des Alltags sei immer schwieriger geworden. Dinge wie Einkaufen, Wäsche waschen, Rechnungen bezahlen und pünktlich zu Vorlesungen zu kommen, erschienen ihr nahezu unmöglich.
"Ich war überzeugt, ich werde dement." Aus der Traum vom Medizinstudium. "Ich werde niemals Ärztin", sagte sie sich und verfiel allmählich in eine Depression. Depressive Menschen haben kein Selbstbewusstsein mehr. "Das, was man glaubt, was man ist, wird dann Realität", beschreibt Maria Q. ihren Zustand. Sie habe allen Freunden und Bekannten erzählt, sie sei nicht klug genug für ein Medizinstudium, habe es wohl nur mit Glück bis zum achten Semester geschafft. "Aber keiner hat mich ernst genommen." Was wiederum dazu führte, dass die junge Studentin sich immer mehr einigelte und Suizidgedanken bekam.
Sie wechselte den Psychiater, er verordnete ihr Ritalin. Bei Erwachsenen kann das Medikament zu überschwänglicher Euphorie führen, was bei Maria Q. der Fall war. Der Psychiater diagnostizierte daraufhin eine bipolare Störung und verschrieb ihr Antidepressiva. Ihre Gefühle pendelten zwischen Hochgefühl und Tatendrang, Niedergeschlagenheit und innerer Leere. Die Selbstzweifel und Depressionen blieben.
Ärzte erkannten für lange Zeit die Krankheit nicht
Maria Q. suchte schließlich Hilfe bei einem Psychologen, der endlich die richtige Diagnose stellte: ADHS. Für die junge Frau war das wie ein Befreiungsschlag. "Mein Problem war nicht, dass ich mich nicht genug anstrengte. Ich war nicht dement und auch nicht dumm. Das Problem war, dass die Hormone in meinem Gehirn nicht stimmten."
Bei ADHS liegt ein Ungleichgewicht der Neurotransmitter vor, die für die Informationsübertragung in den Nervenzellen wichtig sind. Auf diese Diagnose hatte Maria Q. jahrelang warten müssen. Rückblickend hadert sie mit ihren Ärzten, die ihre Krankheit nicht erkannt hatten: "Das hätte auch schiefgehen können."
Ihre Vorgeschichte motivierte sie dann auch, ihren Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie zu machen, weil sie sich in ihre Patientinnen und Patienten hineinversetzen kann. "Ich weiß, wie sich das anfühlt." Im Kollegenkreis geht sie mit ihrer Erkrankung offen um und findet großes Verständnis.
Maria Q. befindet sich auch heute noch in psychotherapeutischer Behandlung und nimmt Medikamente ein, damit die aus dem Gleichgewicht geratene Transmitter-Chemie stimmt. "Seitdem geht's mir gut."
ADHS ist übrigens vererbbar. Maria Q. hat die Symptome der Krankheit sowohl bei ihrer Mutter als auch bei ihrer Oma entdeckt und vermutet, dass auch ihre kleine Tochter ADHS hat. Angst macht das der jungen Ärztin nicht. "Ein Leben mit ADHS ist möglich, man ist halt nur etwas anders."
Wir sind alles nur Menschen.
Worin genau soll hier der in der Schlagzeile benannte „Tabubruch“ bestehen?