Wer einmal in ihre großen schwarzen Augen geschaut hat, den lässt ihr Schicksal nicht mehr kalt. Es ist brutal: Mehr als 100.000 Rehkitze werden laut offizieller Hochrechnung jedes Jahr totgemäht. Nicht immer kommt der Tod schnell. Oft trennt die Mähmaschine den Kleinen die Beine ab, und die Ricken müssen das qualvolle Sterben ihres Kindes mit ansehen.
Dieses Schlüsselerlebnis war es, das Claudia Fella zur Rehkitzretterin gemacht hat. Das Schreien des amputierten Kitzes und das Bild der trauernden Mutter auf einem abgemähten Acker bei Wülfershausen hatten sich bei ihr eingebrannt. Sie gründete den Verein Rehkitzrettung Unterfranken und hat inzwischen 30 ehrenamtliche Unterstützerinnen und Unterstützer um sich geschart. Mit Drohnen, die mit einer Wärmebildkamera ausgestattet sind, überfliegen sie vor dem Mähen die Felder und holen die Kitze heraus, um sie in sicherer Entfernung wieder auszusetzen. Im vergangenen Jahr haben Claudia Fella und ihr Team 128 Rehkitzen das Leben gerettet.
Rehkitzrettung ist Teamarbeit
Summend hebt die Drohne ab. Zentimeter für Zentimeter fliegt Thorsten Wolf die Wärmebildkamera in 50 bis 60 Meter Höhe übers Feld. Hochkonzentriert, um ja kein Tier zu übersehen. Burkhard Schmitt verfolgt den Flug auf dem Display mit. "Da ist was." Er zeigt auf zwei weiße Punkte auf dem kleinen Bildschirm. Das könnten Rehkitze sein.
Mit dem Walkie-Talkie nimmt er Kontakt zu einem der Rettungstrupps auf, die sich am Feldrand postiert haben. Zu dritt marschieren sie los, hinein ins hohe Gras, das am frühen Morgen noch feucht ist. Doch schnell wird klar, es ist ein Fehlalarm. Die weißen Punkte bewegen sich. Zwei Katzen huschen davon.
Ein Rehkitz würde liegen bleiben, sich bei Gefahr ganz flach auf den Boden pressen. Dieser sogenannte Drückinstinkt schützt die Jungtiere vor Fressfeinden, auch weil sie in den ersten Lebenswochen noch keinen Eigengeruch haben. Das hat die Natur gut eingerichtet. Doch wenn die großen Mähmaschinen kommen, springen sie halt auch nicht weg. Dann wird der natürliche Instinkt zum tödlichen Verhängnis.
Die Rehkitzrettung beginnt immer sehr früh am Morgen
In diesem Feld findet der Drohnenpilot kein Rehkitz. Schnell geht es weiter zum nächsten Feld. Den Rehkitzrettern bleibt nur ein kleines Zeitfenster am Morgen, wenn die Sonne den Boden noch nicht aufgeheizt hat und die Kitze noch wärmer als ihre Umgebung sind. Der Temperaturunterschied muss noch groß genug sein, um sie sicher mit der Wärmebildkamera aufspüren zu können.
Die Rehkitzrettung beginnt deshalb immer sehr früh am Morgen. Treffpunkt ist täglich um 4.45 Uhr am alten BayWa-Silo am Ortsausgang von Wülfershausen. Diesmal sind zwei Drohnenpiloten und 20 Unterstützerinnen und Unterstützer im Einsatz. Sie teilen sich auf in zwei Gruppen.
Wieder lässt Thorsten Wolf die Drohne steigen. Und diesmal ist es ein Volltreffer: Auf dem Display erscheinen drei kleine weiße Punkte und ein größerer weißer Fleck, eine Geiß mit einem Drilling. Jule und Theresa ziehen frische Gummihandschuhe über und reißen mehrere Grasbüschel aus, mit denen sie die Kitze anfassen und in eine Wanne wegtragen werden. Das ist wichtig, um nicht den menschlichen Geruch zu übertragen. Die Mutter würde sonst ihren Nachwuchs nicht mehr annehmen.
Schritt für Schritt kämpfen sich die beiden nach Anweisung des Piloten durchs hohe Gras. Zehn Meter geradeaus, dann 90 Grad nach links und noch ein paar Schritte nach vorne. Die Mutter springt auf und läuft davon. Die Kleinen wollen hinterher. Sie sind schon etwas älter, der Drückinstinkt ist bereits dem Fluchtinstinkt gewichen. Jetzt muss es schnell gehen. Jule packt das erste, dann das zweite, Theresa das dritte. Die Kleinen schreien, haben Todesangst, wissen nicht, dass es ihre Rettung ist. Zwei Stunden später wären sie tot.
Jule und Theresa tragen die Kitze in einer mit Gras bedeckten Wanne in die Richtung vom Feld, in die das Muttertier gelaufen ist. Sie setzen die Kleinen an einer geschützten Stelle wieder aus. Die Ricke wird sie später wieder finden.
Jule ist die Tochter von Claudia Fella. Die 14-Jährige ist immer dabei. Jeden Tag vor Schulbeginn geht sie Rehkitze retten. Das ist ihre Passion. Denn wer einmal den Herzschlag eines Rehkitzes in seinen Händen gespürt hat, den lässt es nicht mehr los.
Auch bei Theresa Lehmann war es so. Sie wurde durch eine Freundin auf die Rehkitzretter aufmerksam. Seit sie ihr erstes Kitz vom Feld getragen hat, ist sie mit von der Partie. "Jedes gerettete Kitz entschädigt für das frühe Aufstehen", sagt sie. Die 27-Jährige fährt direkt vom Feld zur Arbeit. So wie alle anderen Helferinnen und Helfer auch. Ein beeindruckendes Engagement.
Während die Gruppe weiter zum nächsten Feld zieht, rückt an den abgesuchten Äckern schon der Landwirt mit der Mähmaschine an. Der Zeitplan ist eng getaktet, denn sonst besteht Gefahr, dass die Ricke ihre Jungen wieder im Feld ablegt. Nicht alle Landwirte sind bereit, mit den Rehkitzrettern zu kooperieren. Claudia Fella zeigt ein Feld, das in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abgemäht wurde, obwohl man mit dem Landwirt in Kontakt gewesen sei. "Das ist traurig, dass es solche Bauern gibt."
Die Rechtslage ist hier übrigens sehr eindeutig. So heißt es im Tierschutz- und Bundesnaturschutzgesetz, "dass niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leid oder Schäden zufügen darf". Landwirte oder Landwirtinnen sind sogar in der Pflicht, kein Tier durch die Mahd zu gefährden. Wer das missachtet, dem können mehrere tausend Euro Geldstrafe drohen.
Es gibt aber auch ganz viele positive Beispiele. "Immer mehr Bauern wollen es", berichtet Claudia Fella von Anfragen an die Rehkitzrettung auch aus den Nachbarlandkreisen. "Ohne Abfliegen mache ich gar nichts mehr", sagt beispielswiese Patrick Wolf aus Sachserhof. Der Bio-Landwirt aus dem Spessart hat einmal ein Kitz angemäht, obwohl er zuvor das Feld abgesucht hatte. "So etwas möchte ich nie mehr erleben. Das tut schon weh." Als er von der Rehkitzrettung Unterfranken erfuhr, engagierte er sofort das Team für die Befliegung seiner Äcker. Der Landwirt sagt, das sei jetzt ein ganz anderes Gefühl, bei der Mahd in den Acker zu fahren.
Nicht nur Rehkitze werden durch die Befliegung gerettet, die Drohne spürt auch Bodenbrüter auf. Diesmal ein Feldlerchennest mit vier hungrigen Mäulern. Claudia Fella kennzeichnet die Stelle mit einem hohen weißen Pfahl. Der Bauer weiß dann, dass er an dieser Stelle nicht mähen darf.
"Das A und O ist die Kommunikation", sagt Georg Fella. Der Ehemann von Claudia Fella ist unermüdlich im Hintergrund aktiv, damit Verein, Landwirte und Jagdpächter Hand in Hand arbeiten. Claudia Fella hat selbst den Jagdschein gemacht, um über die Natur und Tiere Bescheid zu wissen, aber auch um respektiert zu werden. Heinz Henning ist ein erfahrener Jäger, er schätzt die Rehkitzretter, verfolgt aufmerksam die Rettungsaktionen. Auch Drohnenpilot Philipp Hofmann ist Jäger, sozusagen immer in Doppelfunktion im Einsatz.
Elf Rehkitze und ein Feldlerchennest werden an diesem Tag von den zwei Teams auf den Feldern von Wülfershausen gerettet. Für alle ist es ein gutes Gefühl, so viele tödliche Schicksale abgewendet zu haben. Inzwischen hat sich auch die Sonne durch die Wolkendecke gekämpft und sorgt für wohlige Wärme. Claudia Fella hat Kaffee und Kuchen dabei, ein kleines Dankeschön an alle Aktiven.
Der Verein Rehkitzrettung Unterfranken ist auf Spenden angewiesen, um seine Arbeit zu finanzieren. Die benötigten Drohnen mit Wärmebildkamera kosten durchschnittlich 7000 Euro. Wer den Verein mit einer Spende unterstützen möchte: Bankkonto "Rehkitzrettung Unterfranken e.V. " IBAN: DE 80 7906 9010 0009 7451 65 oder paypal rehkitzrettung-unterfranken@web.de
Ich kann Ihnen da nur zustimmen und an alle die, die dort mitwirken ein dickes Danke sagen. Auch an alle anderen Helfer irgendwo anders ebenfalls Danke.
Wie Sie schon sagen, das absuchen der Felder vor dem mähen sollte verpflichtend werden.
Das sollten uns unsere wenigen verbliebenen Wildtiere wert sein.
Schön, dass sich so viele dafür ehrenamtlich engagieren und noch schöner wäre es, wenn das noch viel mehr tun würden.
Kleiner, freundlicher Hinweis an die Autorin:
Sachserhof liegt ungefähr so genau im Spessart wie München in den Alpen liegt. 😉
Aber nix für ungut - war nur ein Hinweis - kein Vorwurf.