Iryna Nazarova ist froh, dass sie in Wiesentheid angekommen ist. Die Ukrainerin, die in Kiew wohnt, ist mit ihren sechs und acht Jahre alten Kindern am Samstagfrüh in Deutschland eingetroffen. Einen Rucksack und ein, zwei Taschen haben die drei mitgenommen, das müsse erst einmal reichen, sagt sie.
Am Donnerstag hatte ihr Mann sie bis zur polnischen Grenze gefahren, damit sie in den Westen in Sicherheit kommen. Ohne ihn, denn Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen nicht aus der Ukraine ausreisen. Also versuchten sie es mit den Kindern, per Zug oder Bus wollten die drei vom polnisch-ukrainischen Grenzübergang bei Przemysl weg. Dort herrschte aber riesiger Andrang, einige Tage Wartezeit drohte. Deshalb machten sie sich zu Fuß zu einem kleineren Übergang in der Nähe auf. Es klappte, einige Zeit später saß Iryna mit ihren Kindern im Bus in Richtung Frankfurt.
Zwischendurch wurde immer wieder mit Wiesentheid telefoniert, um weiteres abzusprechen. Sie stiegen mitten in der Nacht in der Nähe von Erfurt aus, an einer Raststätte, die als vereinbarter Treffpunkt diente. Dort wurden sie von Wolf-Dieter Gutsch und Rudolf Baumgarten abgeholt.
Beide sind ehemalige Lehrer am Gymnasium in Wiesentheid. Gutsch kennt Iryna Nazarova, weil die Ukrainerin vor Jahren beim Schüleraustausch mit in Wiesentheid war. Die Wiesentheider Schule unterhält bereits seit 1999 eine Schulpartnerschaft mit einem ukrainischen Gymnasium in Nowograd-Wolhynsk, als einziges Gymnasium in ganz Bayern.
Als Gastschülerin in Wiesentheid
Bei diesem ersten Austausch 1999 gehörte Iryna zur Gruppe der ukrainischen Gastschüler. Sie weilte 2019 zur Feier des 20-jährigen Bestehen der Verbindung erneut in Franken. Seitdem hat sie zu Gutsch und anderen Lehrkräften regelmäßig Kontakt per E-Mail.
Das zahlte sich aus für die nahezu perfekt deutsch sprechende Frau. "Ohne diese Schulpartnerschaft säße Iryna nicht hier", sagt Gutsch. Geflohen wäre sie trotzdem, sagt die junge Frau. Sie habe einige Bekannte in ganz Deutschland, die ihr auch Hilfe anboten.
Die letzten Tage seien anstrengend gewesen, sagt Iryna. In Polen seien sie sehr freundlich empfangen worden, die Leute dort hätten sofort Hilfe angeboten. Viele Busse seien an der polnischen Grenze bereit gestanden, eine große Menge an Flüchtlingen warte dort auf die Fahrt in eine ungewisse, aber erst einmal sichere Zukunft. "Es ist chaotisch dort. Die Leute sitzen alle auf Koffern, sie sind gereizt, müde. Es herrscht große Unsicherheit und Verzweiflung", beschrieb sie die Situation.
Nicht mit einem Angriff gerechnet
Iryna erzählt ihre Geschichte weiter. Der Gedanke, raus aus dem Land zu gehen, beschäftige sie schon länger. Allerdings habe sie, wie viele ihrer ukrainischen Landsleute, nicht wirklich mit dem Angriff der Russen gerechnet.
So seien ihre Kinder noch bis einschließlich 23. Februar in Kiew zur Schule, beziehungsweise in den Kindergarten, gegangen. "Dann schrieb eine Lehrerin am 24.: Bleiben sie zu Hause, heute fällt alles aus!"
Die Familie dachte, dass es bei den Eltern in Nowograd, etwa 200 Kilometer westlich von Kiew, sicherer sei. Aber auch dort mussten sie ständig in den Keller, weil die Alarmsirenen heulten. Also sei der Entschluss gefallen, zu fliehen. "Wenn ich im Ausland niemand hätte, wäre ich vielleicht in die Westukraine. Das ist aber schwierig, weil das viele machen", schildert Iryna.
Ihr Mann, der als Ingenieur für Sanitärtechnik arbeitet, darf die Ukraine nicht verlassen. Er, wie auch ihr Vater, haben sich zur Verteidigung ihres Landes gemeldet.
Was nun für die junge Frau und ihre beiden Kinder kommt? Wie lange sie weg sein wird? "Ich weiß es nicht. Alle hoffen, dass es nicht lange dauern wird. Ich warte schon auf den Moment, wenn wir zurück kehren können. Ich will wieder zurück." Natürlich spüre sie Ungewissheit. Aber sie, so Iryna, spreche wenigstens deutsch, im Gegensatz zu vielen Flüchtlingen, die nicht einmal englisch könnten.
Iryna rechnet damit, dass sie vorerst wohl einige Zeit mit ihren Kindern in Wiesentheid, beziehungsweise in Gerolzhofen, bleiben muss.