Warum sind da Geschenke?", möchte der Zwölfjährige sofort wissen, als er die gemütlich eingerichteten Scheune betritt. Ein ganzer Stapel davon – in festliches Rot, Weiß und Grün verpackt – liegt nahe der verglasten Eingangstüre zum Hof der Steinmühle in Oberschwarzach und beschwört diese Frage geradezu herauf. "Weil Weihnachten vor der Türe steht", erwidert Gerald Möhrlein gelassen und erklärt dem Jungen geduldig, dass es sich dabei leider nicht um seine Geschenke handele.
Geduld und die Erklärung auf Augenhöhe sind letztlich auch der Schlüssel, mit denen der Pädagoge seinen Schützling davon überzeugt, die verlockend raschelnden Schachteln verpackt zu lassen. Für ihn müsse es unbedingt ein Minecraft Lego Set sein, gibt er Möhrlein noch zu verstehen, bevor er widerstrebend das Feld räumt.
Letzte Weihnachtsvorbereitungen: Der Vorstandsvorsitzende als Geschenkelieferant
"Die Kinder sind natürlich gerade sehr aufgeregt und gespannt auf Weihnachten", erklärt der 53-Jährige fast entschuldigend und meint damit die Kinder des Erich Kästner Kinderdorfs, das er seit 2017 als Vorstandsvorsitzender leitet. Eine Aufregung, die sichtlich auch von Möhrlein Besitz ergriffen hat, der in den letzten Tagen vor Weihnachten noch emsig letzte Vorbereitungen treffen muss.
Der stilisierte Weihnachtsmann auf seinem dunkelblauen Pullover passt da gut ins Bild – hat Möhrlein neben denen in der Scheune doch das ganze Auto voller Präsente, die zwei Tage vor Heiligabend noch fristgerecht dort abgegeben werden müssen, wo sie am 24. unter dem Baum liegen sollen. Sein Strahlen verrät: Es ist eine Herzensangelegenheit für den Vater zweier Töchter, der die Vorstandsarbeit wie seine beiden Kollegen im Ehrenamt verrichtet. In seinem Hauptberuf ist der Diplompädagoge stellvertretender Leiter der Franz-Ludwig-von-Erthal-Schule, einem sonderpädagogischen Förderzentrum in Haßfurt.
"Die Weihnachtszeit im Kinderdorf empfinde ich als ganz wunderbar. Weihnachten", betont Möhrlein, "hat hier einen ganz besonderen Stellenwert". Grund dafür sind auch die Biografien der 40 Kinder und jungen Erwachsenen im Alter von 2 bis 19 Jahren, die in den sechs Kinderdorf-Häusern in den Landkreisen Schweinfurt und Kitzingen in sechs Familien zusammenleben. Es sind Biografien, die von leidvollen Erfahrungen im Elternhaus und vorherigen Pflegestationen geprägt sind. In den Kinderdorffamilien sollen diese Erlebnisse durch langfristige familiäre Bindung überwunden und der Weg in ein selbstständiges Leben ermöglicht werden, sagt Möhrlein.
Kinder sollen im Kinderdorf die weihnachtliche Harmonie erfahren, die sie zu Hause nie hatten
In ihren neuen Familien sollen die Kinder an Weihnachten nun die Harmonie erfahren, die ihnen in ihren Ursprungsfamilien immer wieder versprochen – aber letztlich nie zuteilwurde. Dabei ist Fingerspitzengefühl und einmal mehr Geduld gefragt, denn der Übergang in die "heile Welt" der Kinderdorffamilie gestaltet sich nicht übergangslos. Für die Neuankömmlinge ist das Fest der Liebe vielfach sogar mit Ängsten und der bohrenden Frage verbunden: "Bin ich bei dir wirklich sicher?"
Peter Fleischhauer, der als Sohn der Gründerin des Erich Kästner Kinderdorfs, Gunda Fleischhauer, von Kind auf mit der besonderen Konstellation vertraut ist, ist sich dieser Problematik sehr bewusst. "Weihnachten ist für die Kinder auch immer was Konfliktbeladenes – und teilweise auch was Trauriges. Weil klar, sie vermissen auch die leiblichen Eltern", erklärt der Hühne, dessen sympathisches Lächeln ein dichter Vollbart rahmt. Er hat in der Oberschwarzacher Steinmühle gleichzeitig die Rolle des Leiters, als auch die des Hausvaters inne. Zusammen mit seinem Team ist er für seine acht Kinder damit 24 Stunden Elternersatz.
Eine Aufgabe, die gerade in der Weihnachtszeit schon in normalen Familien (über)fordernd sein kann. Für den gelernten Heilerziehungspfleger ist sie jedoch eine Freude: "Ich liebe die Weihnachtszeit. Das ist einfach eine wunderschöne Zeit, wo man zusammenkommt, wo man zumindest versucht, zur Ruhe zu kommen, und wo wir auch einfach versuchen, ganz viel Zeit mit den Kindern zu verbringen." Besonders zelebriert werde dies an den Adventssonntagen: "Die gestalten wir immer sehr festlich. Mit viel Licht, vielen Kerzen, schönen Düften, mit Plätzchen, mit heißem Kaba, einem schönen Frühstück – einfach sehr verwöhnend."
Wer da an Rolf Zuckowskis "Dezemberträume" denken muss, liegt goldrichtig. Tatsächlich pflegt der Liedermacher nämlich eine enge Verbindung zum Kinderdorf und trug 1997 finanziell und ideell einen großen Teil dazu bei, dass der Nachbarhof der Steinmühle – die Wiesenmühle – als weiteres Familienhaus eingerichtet werden konnte. Fragt man die Kinder in den Oberschwarzacher Häusern worauf sie sich an Weihnachten am meisten freuen, spiegeln sich in den Antworten auch durchaus die romantischen Bilder aus Zuckowskis beliebten Weihnachtsliedern: Schnee, schöne Dekoration, gutes Essen, gemeinsames Singen und Geschenke.
Darüber hinaus benennen die Sieben- bis 18-Jährigen jedoch auch genau die Elemente, mit denen Fleischhauer und sein Team in der Adventszeit ein behagliches Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen wollen: "Ich mag das leckere Frühstück an den Adventssonntagen", "ich freue mich auf das Spazierengehen, das Singen und auf die Weihnachtsgeschichte", "ich liebe den Schnee und danach die Wärme, wenn der Ofen in der Küche angeschürt wird", "ich helfe beim Geschenke einpacken und das macht mir so viel Spaß!"
Heimkinder zeigen in der Weihnachtszeit ihre hohe soziale Kompetenz
"Diese Idealvorstellungen und Werte, die man so hat, versuchen wir einfach vorzuleben, unseren Kindern auch zu vermitteln und ich glaube, das gelingt uns schon – vielleicht nicht unbedingt besser als es in anderen Familien gelingt, aber wir versuchen zumindest den Fokus daraufzulegen." Dass diese Versuche offenbar von Erfolg gekrönt sind, zeige sich für den 38-Jährigen in der starken Sozialkompetenz seiner Kinder. So werde in der Vorweihnachtszeit auch immer der "Weihnachtsfrieden" ausgerufen.
"Sobald der kleinste Streit aufkommt, heißt es dann immer: Hey, es ist doch Weihnachtsfrieden, warum können wir uns nicht vertragen?" Auch stehe das Schenken fast noch stärker im Fokus als das beschenkt werden: "Ich bin immer wieder beeindruckt, an wie viele andere Menschen sie so denken. Seien es Lehrkräfte, Menschen vom Jugendamt oder Vormunde. Da werden Karten gebastelt, Briefe geschrieben, Pakete gepackt – da sind unsere Kinder einfach schon sehr weit.
Sollte das gewünschte Lego-Set am Ende also doch nicht unter dem Baum liegen, würde dies den Weihnachtsfrieden wahrscheinlich nicht gefährden. So zeigt sich beim abschließenden Gang über den stimmungsvoll beleuchteten Hof der Steinmühle, welch ausgezeichnete Alternative eine Großfamilie zu einer Packung Klemmbausteine bereithält: Der Zwölfjährige hat drei jüngere Geschwister rekrutiert und gemeinsam übertragen sie das Szenario des beliebten Computerspiels einfach ins abendliche Oberschwarzach.