Etwa 200 mal pendelt Fährschiffer Ingo Tiemann im Sommer täglich zwischen Wipfeld und dem Ortsteil St. Ludwig auf der anderen Mainseite hin und her. Das mag sich für manche langweilig anhören, vermutet Tiemann, "ist es aber nicht", schließlich muss er nicht nur kassieren und dabei freundlich sein, sondern während der zweiminütigen Überfahrt gleichzeitig die Passagiere, deren Gefährte, die technische Sicherheit, die Umgebung und die Schifffahrt auf dem Main im Auge behalten.
2019 hat Tiemann das Fährschifferzeugnis, auch Fährpatent genannt, erhalten. Für die Zulassung zur Prüfung musste er 180 Tage Fahrzeit im Beisein eines patentierten Fährschiffers absolvieren und außerdem ein UKW-Sprechfunkzeugnis für die Binnenschifffahrt und ein medizinisches Tauglichkeitszeugnis vorlegen.
Wichtigste Voraussetzung allerdings, stellt Tiemann schmunzelnd fest, ist die Liebe zum Wasser – ein manchmal doch recht unruhiger Arbeitsplatz. An sonnigen Tagen mäandert der Main idyllisch dahin, doch gibt es eben auch die stürmischen Tage im Herbst oder Winter mit Hochwasser und unruhiger Wetterlage, die aber ihren ganz speziellen Reiz haben, findet Tiemann, der im Wechsel mit Bruno Waldherr und einem Aushilfsfährführer die Mainfähre an 365 Tagen im Jahr lenkt.
Als Junge mit den Eltern den Atlantik Richtung Venezuela überquert
Das Wasser liegt Ingo Tiemann im Blut. Mit Eltern und Bruder wanderte der Zwölfjährige in den 1980er Jahren von Hamburg nach Venezuela aus – quer über den Atlantik im Segelboot, in dem er mit seiner Familie einige Jahre lebt. Er geht in Caracas zur Schule, wird nach dem Abitur Matrose und befährt die Weltmeere. Vor einigen Jahren kehrt er mit Frau und Sohn nach Deutschland zurück und findet in Schwanfeld eine neue Heimat.
Die Suchannonce der Gemeinde Wipfeld 2018 nach neuen Fährführern kommt ihm wie gerufen, schon weil er auf dem Wasser arbeiten und seine Arbeitszeiten bündeln kann und sich so Tage schafft, an denen er seine Frau bei der Betreuung des autistischen Sohnes unterstützt.
Insgesamt verteilt sich seine Arbeitszeit, 39 Stunden pro Woche im Öffentlichen Dienst, angestellt bei der Gemeinde Wipfeld, auf drei Tage wöchentlich. Dann ist Ingo Tiemann von sechs Uhr morgens bis abends um 19 Uhr auf dem Main unterwegs mit zwei 30-minütigen Pausen – seit November 2022 neuverordnete Pflicht.
Attraktiver Arbeitsplatz mitten in der Natur
Für Tiemann und seinen Kollegen Bruno Waldherr sind Fähre und Main ein attraktiver, naturnaher Arbeitsplatz mit einiger Routine, aber auch viel Abwechslung. Das muss man lieben sagt Tiemann und schwärmt von den ersten morgendlichen Minuten, an denen noch nicht so viel los ist, über dem Main ein mystischer Dunst hängt und er oft Biber beobachtet. Oder die Störche und Schwäne, die unbeeindruckt von der Fähre im Main ihre Runden ziehen – Fährmann, Fähre und Natur haben sich in Wipfeld gut arrangiert.
Auch die vielen Menschen, die tagtäglich die Fähre nutzen – im Sommer mehr, im Winter weniger – gehören zum Arbeitsalltag des Fährmanns. Da sind die vielen Fahrradfahrenden, die die Fährverbindung in ihre Fitnessrunden einbauen oder auf ihren Radwandertouren den Main per Fähre überqueren. Die Post setzt mindestens einmal täglich über und viele Berufspendler nutzen die Fähre auf dem Weg zur Arbeit wie eine Gemeindeverbindungsstraße.
Die Fähre, seit 2022 übrigens mit den anderen Mainfähren immaterielles Kulturerbe, gehört zum Leben der Wipfelder einfach dazu, wie ein Gemeinderat, der gerade über den Main pendelt, berichtet, der mit dem Blick auf die Fähre aufgewachsen ist, die Verbindung oft mehrmals täglich nutzt und das Schiff nun als Tattoo auf seinem Arm verewigt hat.
Ingo Tiemann setzt gerade wieder über und muss kurz warten: ein Frachtschiff tuckert den Main, eine Bundeswasserstraße, hinunter. Es gilt die Regel "Längsschifffahrt vor Querschifffahrt", auch das muss der Fährmann ebenso im Auge behalten, wie seine Fracht. Erst vor zwei Jahren ist es zu einem Fährunglück in Wipfeld gekommen und ein Traktorgespann in den Fluten versunken. Die Fähre ist ein träges Gefährt und lässt sich nun mal nicht so fahren wie ein Auto und erst recht nicht so schnell bremsen, deshalb "scheucht" Tiemann auch immer wieder Angler fort, die sich zu nah an der Anlegestelle ein Plätzchen gesucht haben.
Auch Bürgermeister Tobias Blesch arbeitet an seinem Fährpatent
Der Fährschifferjob ist verantwortungsvoll, das weiß auch Tobias Blesch, als Wipfelds Bürgermeister Dienstherr der Fährleute. Auch er hat schon viele Stunden in der Fährkabine zugebracht, um das Fährpatent zu erhalten. Doch das wird wohl noch etwas dauern, schmunzelt Blesch, gerade hat er dafür wenig Zeit.
Die Personaldecke im Wipfelder Fährbetrieb, sagt Blesch, ist aktuell angespannt. Seit dem 16. bis 27. August ruht der Fährbetrieb wegen der angespannten Personalsituation, ab 28. August geht es wieder weiter, teilte die Gemeinde kürzlich mit. Pendler müssen in dieser Zeit auf die Fähre in Obereisenheim ausweichen.
Mindestens ein weiterer Fährmann oder natürlich auch eine Fährfrau werden dringend benötigt, gerne auch zeitnah oder als Aushilfe, am liebsten aber in Festanstellung und Vollzeit. Während früher häufig gelernte Binnenschiffer von der Frachtschifffahrt auf die Fähren wechselten, lässt sich mittlerweile der Personalbedarf, wie der Bürgermeister aus Erfahrung berichtet, in der Regel nur noch über eigene Personalausbildung decken. In den vergangenen zehn Jahren konnten in Wipfeld bereits vier "Fährjungen" mit Erfolg als Quereinsteiger zum Fährführer qualifiziert werden.
Interessenten, die sich für eine eine anspruchsvolle Arbeitsstelle auf dem Main begeistern, können sich bei der Gemeinde Wipfeld oder der Verwaltungsgemeinschaft Schwanfeld melden.