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Schweinfurt
Bildungskrise, Pandemie und Ungleichheit: Ein Schweinfurter Schulleiter erklärt, wie sich Schule verändert hat
Im Interview spricht der scheidende Direktor des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums über seine Erfahrungen. Warum es trotz Problemen Grund zur Hoffnung gibt.
Hat das Alexander-von-Humboldt-Gymnasium in Schweinfurt über sieben Jahre geprägt:  Oberstudiendirektor Klemens Alfen wechselte zum 31. Juli in den Ruhestand.
Foto: Heiko Becker | Hat das Alexander-von-Humboldt-Gymnasium in Schweinfurt über sieben Jahre geprägt:  Oberstudiendirektor Klemens Alfen wechselte zum 31. Juli in den Ruhestand.
Marcel Dinkel
 |  aktualisiert: 06.08.2024 02:41 Uhr

Vor siebeneinhalb Jahren wurde Klemens Alfen Direktor des größten Gymnasiums in Schweinfurt. Der studierte Gymnasiallehrer für Geschichte und Ethik hat viele Stationen in seinem Leben durchlaufen. Doch seine Zeit am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium (AvH) war der Höhepunkt seines Schaffens.

Im Abschlussinterview erläutert der 66-Jährige, wie soziale Medien die Leistungen der Schülerinnen und Schüler beeinflussen, warum junge Männer andere Vorbilder brauchen und was Schulen den Krisen entgegensetzen können.

Frage: Herr Alfen, ich treffe Sie heute an einem Ihrer letzten Arbeitstage. Können Sie sich denn noch an ihren ersten Tag am AVH erinnern?

Klemens Alfen: Ich begann 2017 in den Faschingsferien zur Halbzeit. In dem Moment, als ich das Schulgelände betrat, wurde mir schlagartig klar, wie viel Verantwortung ich plötzlich trug.

Warum wollten Sie damals Schulleiter am Humboldt-Gymnasium werden?

Alfen: Es ist schön, zu sehen, wie junge Menschen erwachsen werden. Mit Alexander von Humboldt haben wir außerdem einen sensationellen Namensgeber. Er war ein fanatischer Entdecker und Forscher. Neugier ist der Motor, um nach Wissen zu streben. Deshalb versuchen wir, die Schüler hier möglichst viel selbst machen zu lassen, gemäß dem Motto: "Hilf mir, es selbst zu tun". 

Sie unterrichten als Schulleiter ja nicht mehr. Wie haben Sie trotzdem geschafft, nahe bei den Kindern zu bleiben?

Alfen: Dank der Schülermitverantwortung (SMV) konnte ich trotz meiner Aufgaben als Schulleiter nah bei den Kindern sein. Als Schulleiter muss man elementare Entscheidungen treffen. Mir war es ein Anliegen, dabei immer mein Kollegium, aber auch die Schüler in ihren Bedürfnissen zu sehen. Ich habe mich als Anwalt der Schüler verstanden. Dabei habe ich meine Abwesenheit im Unterricht auch immer als Chance begriffen, Kontakt mit den Schülern aufbauen zu können, ohne die Hürde der Notenvergabe.

"Mir war es wichtig, dass die Schüler sich mit ihrer Schule identifizieren."
Klemens Alfen, ehemaliger Schulleiter am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium
Warum war Ihnen das wichtig?

Alfen: Mir war es wichtig, dass die Schüler sich mit ihrer Schule identifizieren. Am AVH gibt es 1000 Schüler und knapp 100 Lehrkräfte. Diese Schule ist also in erster Linie eine Schule der Schülerinnen und Schüler. Wenn man sie mithilfe eigener Projekte durch die SMV mitgestalten lässt, kann dadurch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entstehen. Der Aufbau einer großen SMV, die selbst Verantwortung übernimmt, war also zentral. Am Anfang bestand die Schülermitverantwortung hier aus zwei bis drei Schülern. Heute haben wir am über 90 Mitglieder darin. Das hilft auch enorm beim Lernen.

Ein Drittel der Schüler hier hat einen Migrationshintergrund. Wie schafft man es, einen so bunten Haufen zusammenzuhalten?

Alfen: Indem man auf die Bedürfnisse der Schüler achtet. Zu Beginn und Ende des Schuljahres haben die Schüler bei uns traditionell an einem Gottesdienst teilgenommen. Kinder mit einer anderen Konfession konnten daran aber nicht teilhaben. Deshalb haben wir eine Veranstaltung unabhängig von der Konfession etabliert. Den sakralen Raum konnten die Schüler weiter im Religionsunterricht besuchen. Für eine gemeinsame Identifikation ist es essenziell, dass alle Schüler einen gemeinsamen Start und ein Ende im Schuljahr haben. Insbesondere für Jungs spielt Identifikation eine große Rolle.

Trotz des Abschieds freut sich Klemens Alfen darauf, den Ruhestand mit seinen Enkelkindern zu verbringen.
Foto: Heiko Becker | Trotz des Abschieds freut sich Klemens Alfen darauf, den Ruhestand mit seinen Enkelkindern zu verbringen.
Warum ausgerechnet für Jungs?

Alfen: Wir haben überwiegend Jungs bei uns an der Schule. Die Männerrolle ist in diesem Alter besonders volatil. Die Hormone schießen ein, man erfährt sich als kräftigen jungen Menschen, muss aber auch nach der Etikette funktionieren und mitfühlend sein. Das fällt Jungs meist schwerer. Ihnen fehlen Identifikationsfiguren.

Jugendliche in Deutschland schneiden laut Pisa-Studien immer schlechter in Mathematik, im Lesen und bei Naturwissenschaften ab. Trifft das auch auf Ihrer Schüler zu?

Alfen: Natürlich. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Konzentrationsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen nimmt ab. Gerade die Sozialen Medien und Spiele machen uns zu schaffen. Deshalb haben wir hier bei uns die Handys aus dem Unterricht verbannt. Die Schüler tun sich mit dieser Enthaltsamkeitsphase schwer. Von den Eltern wissen wir, dass die Kinder zu Hause dann erstmal zwei Stunden am Handy verbringen. Diese geistige Energie fehlt dann für die Hausaufgaben.

Braucht es mehr digitale Bildung an Schulen?

Alfen: Generell von digitaler Bildung zu sprechen, halte ich für Unsinn. Digitalität hat zwar Anteil an der Bildung, ist aber vor allem eine Fähigkeit. Wir handhaben das aktuell so, dass die Kinder ab der achten Klasse ihre Heftführung auf dem Laptop machen dürfen. Zudem haben die Schüler im Unterricht Zugriff auf iPads, um damit zu arbeiten. Im naturwissenschaftlichen Bereich ist das phänomenal, weil wir dort zum Beispiel chemische Prozesse mithilfe von Programmen ganz anders darstellen können. Es muss gut überlegt sein, wie Hilfsmittel im Unterricht eingesetzt werden. Einige skandinavische Länder fahren die Digitalisierung inzwischen sogar wieder zurück.

Viele Schulhäuser sind marode. Sind die zufrieden mit der Ausstattung am AvH?

Alfen: Bis 2028 sollen alle weiterführenden Schulen einen Laptop für jeden Schüler zur Verfügung bekommen. Die Mittel dafür kommen größtenteils von Bund und Land, weshalb digitale Geräte eher ankommen als die Toilettensanierungen.  Allerdings werden wir mit dem Einrichten der Geräte allein gelassen. Die Stadt- und Wohnbau GmbH (SWG) hat aber einen guten Job bei der Vorbereitung der Schule für die Digitalisierung gemacht.

"Wir müssten, was Ausstattung und Personal betrifft, deutlich mehr investieren."
Klemens Alfen, ehemaliger Schulleiter am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium
Und wie sieht es beim Gebäudebestand aus?

Alfen: Nach 49 Jahren beginnen wir beim AvH jetzt erst damit, die Toiletten zu sanieren. Das heißt aber nicht, dass die Instandhaltung der Schulen nicht in der Politik angekommen ist. Mein Eindruck ist eher, dass die Kommunen finanziell nicht dazu ertüchtigt werden, ihre Schulhäuser entsprechend zu modernisieren. Wir müssten, was Ausstattung und Personal betrifft, deutlich mehr investieren. Das wird vor allem in den kommenden Jahren ein Problem.

Wie meinen Sie das?

Alfen: In zwei Jahren werden wir den Übergang von G8 zu G9 erleben. Dann kommt mit der 13. Jahrgangsstufe ein kompletter Jahrgang dazu. Schulen, die keinen Raum haben, werden sich schwertun, das aufzufangen. Dasselbe gilt bei den Lehrern. Der Bedarf an zusätzlichen Lehrkräften liegt bei den Gymnasien übernächstes Jahr bei 15.000. Die Schulen müssen also schauen, wie sie den Unterricht gestemmt bekommen. Am Humboldt konnten wir uns in den vergangenen Jahren zum Glück gut aufstellen.

In Ihre Zeit fiel auch die Corona-Pandemie. Wie blicken Sie auf diese zurück?

Alfen: Eine absolut verheerende Zeit, die bislang nicht aufgearbeitet wurde. Das Schlimmste war, dass die Schüler bis zu sechs Monate nicht im Unterricht waren. Dadurch wurden Lücken ins Grundwissen gerissen. Außerdem wurden die Schüler entsozialisiert. Das Gemeinschaftsgefühl muss also erstmal wieder gefunden werden, weshalb wir jetzt noch deutlicher in Kontakt treten müssten und die Schüler nicht weiter ins Digitale hereindrängen sollten. Viele Schüler trugen psychische Probleme davon und werden heute noch klinisch behandelt.

Wie erklären Sie sich die wachsende Zustimmung junger Menschen für die AfD?

Alfen: Die extremen Parteien sind auf den Sozialen Medien überzeugend aktiv. Die demokratischen Parteien haben dieses Feld sträflich vernachlässigt. Unsere Antwort muss eine aktive sein. Auf Anregung der SMV haben wir deshalb bei uns einen Verfassungstag eingerichtet. Auch die jüngst eingeführte Verfassungsviertelstunde kann ein Beitrag zur politischen Bildung liefern. Man muss sie nur richtig umsetzen und von den Schülern denken.

Welche Rolle spielt die wachsende soziale Ungleichheit für die Bildungschancen an einer Schule?

Alfen: Wir hatten über viele Jahre eine Schülersprecherin, die als syrisches Flüchtlingskind zu uns kam. Das Mädchen hat schnell Deutsch gelernt, lange die SMV geführt und wurde zuletzt sogar vom Kultusministerium geehrt. Die Durchlässigkeit ist also da. In sprach- und bildungsfernen Familien haben wir jedoch Probleme, so etwas anzuschieben. Als Reaktion darauf haben wir als einziges Gymnasium in Schweinfurt zwei Ganztagsklassen in der fünften und sechsten Jahrgangsstufe geschaffen, die von acht bis 16 Uhr im Haus sind. Solche Klassen schaffen mehr Bildungsgerechtigkeit.

Inwiefern?

Alfen: Darin gibt es mehr Stunden für Hauptfächer. Dazu gibt es eine zusätzliche Stunde Musik und eine Mittags- und Hausaufgabenbetreuung. Die Schüler sind also ein Stück weit zu Hause hier. Das hilft Ihnen, hier besser anzukommen. Heuer hatten wir im Abitur die ersten, die damals in dieser Ganztagsklasse angefangen haben. Dabei konnten wir feststellen, dass ein großer Teil dieser Schüler besser durchgehalten hat. Das Angebot wird mittlerweile auch von Schülern genutzt, deren Eltern beide berufstätig sind.

Haben Sie einen Tipp an Ihre Nachfolgerin Frau Seelmann?

Alfen: Mein Tipp wäre – ähnlich wie bei den Schülern – die Lehrkräfte und die Mitarbeiter in ihrer Eigenverantwortung zu stärken. Die Selbstwirksamkeit, die wir beim Tun erfahren, ist das tragende und wirksamste Element in einer Schulfamilie.

 
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