
Für Susanne Haas gibt es ein Leben davor und eines danach. Ein Leben, in dem sie für andere da war, sich ehrenamtlich in vielen Bereichen engagiert hat. Ein Leben, in dem sie gerne getanzt hat. Ein Leben, in dem sie leidenschaftlich gerne mit ihrem Motorrad unterwegs war. Ein Leben, in dem sie gearbeitet hat, für ihre Kinder da war. Ein Leben, in dem sie sich gerne mit anderen Hundebesitzern zum Gassigehen getroffen hat.
Das Leben danach hat am 20. September begonnen. Bei einem Motorradunfall hat die 50-Jährige ihr linkes Bein verloren. "50 Jahre hatte ich zwei Beine", sagt die alleinerziehende Mutter. Seit 32 Jahren fährt sie Motorrad. "Praktisch unfallfrei".
Am 20. September ging es mit ihrem "Baby", wie sie ihr Motorrad liebevoll nennt, nach Belgien. Dort wollte sie sich mit anderen Mitgliedern der Herzen-Biker treffen. Die Gruppe setzt sich für kranke Kinder und bedürftige Menschen ein. Auf der Belgien-Tour sollte Geld für ein Kinderhospiz gesammelt werden. Susanne Haas hatte sich sehr auf die Fahrt gefreut, erzählt sie.
Kurz vor dem Hotel nimmt ihr ein Auto die Vorfahrt
Kurz vor dem Hotel in Belgien fällt ihr ein, dass sie noch tanken muss. Am nächsten Tag soll es früh losgehen. Das nächste, an das sie sich erinnert: Ein Auto nimmt ihr die Vorfahrt. Sie stürzt auf das Auto. "Gott, der gibt Gas", denkt sie sich. Dann wird alles schwarz. Sie kommt wieder zu sich, will aufstehen. Das geht aber irgendwie nicht. Sie erkennt schnell, warum: "Ich gucke hoch und mein Bein liegt neben mir." Wie sich später herausstellt, hat sich das Bein am Rad verklemmt und ist auf Kniehöhe abgerissen worden.
Susanne Hass fällt es nicht leicht, diese Momente noch einmal zu erleben. Sie möchte aber trotzdem erzählen, was passiert ist. Um alles zu verarbeiten, aber auch aus Dankbarkeit gegenüber denen, die ihr geholfen haben. Mit einem Spanngurt, der auf ihrem Sattel war, bindet ihr jemand den Stumpf ab, um die Blutung zu stillen. Sie erinnert sich an wahnsinnige Schmerzen. "Gott, habe ich geschrien." Trotzdem gibt sie nicht auf: "Ich will einfach leben!"

Sie schafft es, ihren Sohn anzurufen, spricht ihm auf die Mailbox. Der Sohn ruft später verstört zurück. Einer der belgischen Ersthelfer nimmt ab. Er bestätigt, was der Sohn nicht glauben wollte. "Ja, deine Mutter hat ihr Bein verloren", sagt er auf Englisch.
Nahtoderfahrung im Hubschrauber
Auf dem Weg ins Krankenhaus im Hubschrauber verschlechtert sich ihr Zustand. "Ich war zweimal klinisch tot", sagt sie. Was sie ins Leben zurückbringt, ist der Gedanke an ihre Kinder. Sie sieht in einer Nahtoderfahrung ihren Sohn vor sich, geht zu ihm. Sie erkennt plötzlich, dass die Rettungskräfte wohl ihr Gesicht abgedeckt haben, denkt: "Die haben mich aufgegeben". Irgendwie schafft sie es, jemanden anzufassen, mitzuteilen: Ich lebe noch.
Bis 2. Oktober liegt sie im Krankenhaus in Belgien. Ihre Söhne, einer ein Teenager, der andere Mitte 20, besuchen sie. Ein in Kindertagen geliebter Plüschhund bleibt da. "Der passt jetzt auf Dich auf, Mama", sagt ihr Sohn. Ein Moment, der Susanne Hass im Rückblick sehr berührt. Oder, wie sie es ausdrückt: "Jetzt habe ich Pipi in den Augen." Sie wird auch nie vergessen, was der Chirurg in Belgien zu ihr gesagt hat: "Sie sind ein Wunder."
Von Belgien ins Schweinfurter St. Josef gebracht
Susanne Haas will schnell zurück nach Schweinfurt, sie will ins Krankenhaus St. Josef. Während ihrer Arbeit beim Fahrdienst des Roten Kreuzes hat sie die Menschen kennengelernt, die dort arbeiten. Die Atmosphäre hat ihr gefallen. Weitere Operationen stehen an, alles geht gut. Besonders dankbar ist die 50-Jährige der Chefärztin der Palliativstation, Dr. Susanne Röder, die sie schmerztherapeutisch behandelt hat. Manchmal sind die Schmerzen stärker, manchmal weniger, manchmal kaum auszuhalten. Vor allem die Phantomschmerzen sind heftig. Sie spürt das Bein, obwohl es nicht mehr da ist.
Manchmal fällt sie in ein Loch, auch solche Momente gibt es. Die Ungewissheit, wie es weitergeht, macht ihr zu schaffen. Auch mit der Krankenkassen-Bürokratie hat sie zu kämpfen. Aber der Wille, wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen, sich nicht unterkriegen zu lassen, ist gigantisch bei Susanne Haas. Jammern, das tut sie nie. Sie will kein Mitleid, aber über Mitgefühl freut sie sich sehr.
Mitgefühl und Unterstützung erfährt sie von vielen. Da sind die Leute, die für sie einkaufen, Familienmitglieder, die die Wohnung in Schuss halten, ihre Söhne, die sich liebevoll um sie kümmern. Da sind Freunde, die Fahrdienste übernehmen, Nachbarn, die ihr helfen, wenn sie mit ihrem relativ schwergängigen Rollstuhl aus dem Haus will.
Eine Freundin hat eine Spendenaktion gestartet
Eine besondere Rolle im Leben nach dem 20. September spielt Freundin und Nachbarin Kristina Fuchs. Auch für die 25-Jährige gibt es ein davor und ein danach. Sie hat ihrer Freundin eine schöne Zeit in Belgien gewünscht, ihr nachgewunken, als sie weggefahren ist, auf ihrem Motorrad. Als sie sie wiedergesehen hat, hatte sie nur noch ein Bein. Kristina ist für ihre Freundin da. "Ich sage ihr, es ist okay zu weinen, aber fall' nicht in Depressionen."
Relativ schnell hat Kristina Fuchs eine GoFundMe-Spendenaktion gestartet. Susanne Haas braucht ein neues Auto mit Automatik. Sie würde sich auch gerne eine hochwertigere Prothese anschaffen, als sie von der Krankenkasse bezahlt wird. Wann sie eine Prothese benutzen kann, hängt von der Heilung des Stumpfes ab. Sie hofft, dass es bald so weit ist. Vielleicht klappt es schon vor Weihnachten.
In der Reha geht es auch um die Psyche
Susanne Haas ist inzwischen endlich auf Reha. Sie will dort auch etwas für ihre Psyche tun, die Bilder aus dem Kopf bekommen. Sie will unbedingt lernen, eine Treppe hochzuhüpfen. Sie will irgendwann mal wieder tanzen. Sie will wieder Motorradfahren. Und sie hat einen Herzenswunsch. Sie würde gerne die Rettungskräfte aus dem Hubschrauber wiedersehen: "Ich würde gerne mit ihnen lachen."
Für die Zukunft hat sie sich auch schon etwas vorgenommen. Sie überlegt, eine Art Verein zu gründen, der Leuten hilft, die sich mit Bürokratie und Krankenkassen auseinandersetzen müssen.