Sie macht weiter: Nicht mehr als Ärztin für Flüchtlinge, sondern als Ärztin für "alle" benachteiligten Menschen. Denn: "Einmal Medizinerin ist immer Medizinerin", sagt Dr. Rosemarie Klingele, die vier Jahre lang ehrenamtlich eine Praxis für Flüchtlinge in Schweinfurt leitete und sich nun mit 82 Jahren für ein neues Projekt in den Dienst der Diakonie stellt. Einmal in der Woche, immer dienstags von 9 bis 11 Uhr, wird sie in den Räumen der Sozialen Dienste Sprechstunde für Menschen am Rande der Gesellschaft abhalten. Menschen zum Beispiel, die nicht krankenversichert sind, die wohnungslos sind, die auf der Durchreise oder auf der Flucht sind – Menschen, die sozial benachteiligt sind.
"Es ist eine Schande, dass die Lebenserwartung in unserem reichen Land schichtenabhängig immer noch um zehn Jahre differiert", zitiert Diakonie-Vorstand Jochen Keßler-Rosa den Präsidenten der Bundesärztekammer, Ulrich Montgomery. So leben in Deutschland Menschen, die sich nicht in ärztliche Behandlung begeben können, wenn sie krank sind. Die Diakonie will diesen Menschen mit ihrem neuen Angebot "Medi-Sozial" einen Zugang zum Gesundheitssystem ermöglichen.
Drei Krankenschwestern unterstützen Dr. Klingele in der Ehrenamtspraxis
Die Praxis ist klein. Neben der Behandlungsliege steht ein Rollcontainer mit Verbandsmaterial, Desinfektionsmittel und Wattetupfern, gegenüber ein kleiner Schreibtisch mit einem Computer. Die Türen der Schrankwand stehen offen. Die 82-jährige Ärztin hat gerade mit ihrer 70-jährigen Helferin Medikamente eingeräumt. Florence Kreiselmeier ist eine von drei Krankenschwestern, die Klingele unterstützen werden. Dem Aufruf der Diakonie auf ehrenamtliche Mitarbeit sind noch Hilde Hofmeister und Herlinde Heinisch gefolgt.
Bei der ersten Sprechstunde lässt sich Diakonie-Vorstand Jochen Keßler-Rosa den Blutdruck von der 82-jährigen Ärztin messen. "Etwas hoch", stellt sie fest, aber der Diakonie-Chef war ja auch mit dem Fahrrad zur Praxiseröffnung geeilt. "Wir setzen hier eine schöne diakonische Tradition fort", freut sich Keßler-Rosa über das neue Angebot in dem Diakonie-Gebäude, in dem im 19. Jahrhundert die ersten Diakonissen in Schweinfurt ambulante Arbeit machten. Rosemarie Klingele ist zwar keine Diakonisse, hat sich aber nicht weniger dem diakonischen Grundsatz verschrieben. Nämlich Menschen, die Unterstützung benötigen, zu helfen – voraussetzungslos, qualifiziert und effektiv.
Rosemarie Klingele war in ihrer hauptberuflichen Zeit Leiterin der Nuklearmedizin am Leopoldina-Krankenhaus Schweinfurt. Bis 2012 hat sie dort gearbeitet, also lange über ein Ruhestandsalter hinaus. Daneben engagierte sie sich gemeinsam mit ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann Herbert Klingele, ehemals Chefarzt für Strahlentherapie am Leo, für die Entwicklungshilfe in Afrika. Auch heute hat sie noch eine enge Verbindung zu den Hilfsprojekten dort. Als die Flüchtlingswelle 2015 über Deutschland hereinbrach, war es für sie selbstverständlich, dass sie ihre Hilfe anbot. Nach ehrenamtlichen Medizinern für die Betreuung der Flüchtlinge in der Gemeinschaftsunterkunft der Regierung von Unterfranken vor den Toren der Stadt hatte die Diakonie in einem Aufruf gesucht. Zeitweise waren dort bis zu 500 Menschen untergebracht. Uwe Kraus, der Leiter der Sozialen Dienste der Diakonie, kann sich noch gut an die erste Begegnung mit Klingele erinnern. Mit den Worten, "Ich bin Medizinerin, was kann ich tun", habe sie sich vorgestellt. Kraus antwortete: "Sie schickt der Himmel."
Die damals 78-Jährige musste bei Null anfangen. Für ihre Praxis in der Flüchtlingsunterkunft sammelte sie sich alles mühsam zusammen: Tisch, Stuhl, Schrank, Behandlungsliege, Verbandsmaterial, Medikamente, einfach alles, was für eine medizinische Basisausstattung nötig ist. "Von der Regierung habe ich nie Unterstützung erhalten", ist Klingele heute noch enttäuscht, wie wenig die Bedeutung dieser Arbeit gewürdigt wurde. Das unbürokratische Handeln nah am Menschen entlastete die niedergelassenen Ärzten und es sparte dem Freistaat Bayern Geld. Zweimal in der Woche hielt Klingele Sprechstunde, 30 bis 60 Personen kamen jedes Mal. Kleine Fälle behandelte sie selbst, andere schickte sie gezielt weiter an Kollegen. Sie stellte Kontakte zu Apotheken oder im Bedarfsfall zu den Krankenhäusern her. Bis im April dieses Jahres die Flüchtlingsunterkunft geschlossen wurde, weil die Regierung hier nun ihr Ankerzentrum betreibt. Rosemarie Klingele musste auch ihre Ehrenamtspraxis aufgeben.
Sozial benachteiligten Menschen den Zugang zu medizinischen Angeboten erleichtern
Wie geht es nun weiter? Diese Frage trieb die Verantwortlichen der Diakonie um. "Dr. Klingele ist ein wertvoller Schatz", sagt Uwe Kraus. Sie sei nicht nur Ärztin, sondern auch eine hervorragende Pädagogin, könne gut mit Menschen umgehen, gerade mit schwierigen Klienten. "Wir wollten deshalb ermöglichen, dass sie ihre Arbeit fortsetzt." So kam die Idee auf, die Ehrenamtspraxis als niederschwelliges medizinisches Angebot im Gebäude der Diakonie fortzuführen. "Es geht nicht darum, eine parallele Versorgungsstruktur aufzubauen", betont Kraus. Vielmehr solle sozial benachteiligten Menschen der Zugang zu bestehenden medizinischen Angeboten erleichtert werden. Mit der sozialpädagogischen Beratung in direkter Nachbarschaft könne so eine präventive Versorgung erfolgen, die Menschen an eine gesundheitsbewusste Lebensweise heranführe.
Die Praxiseinrichtung aus der Flüchtlingsunterkunft war noch vorhanden, sie musste nur aus dem Lager geholt werden. Was noch fehlt, ist ein Ultraschallgerät. "Das wäre schön, wenn ich das hätte", hofft Klingele auf Spenden.
350 Ehrenamtliche sind aktuell für die Diakonie im Landkreis Schweinfurt tätig. "Ohne sie könnten wir vieles nicht leisten", sagt Kraus. Das ehrenamtliche Engagement bringe eine Qualität in die Arbeit, "die wir mit reiner Sozialarbeit nicht erreichen können".
Das hat auch der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder erkannt und Rosemarie Klingele im vergangenen Jahr den Bayerischen Verdienstorden verliehen. Er würdigte damit ihr unermüdliches Engagement – noch im hohen Alter – für die Vergessenen, Vernachlässigten und Verzweifelten. Und die 82-Jährige verspricht: "Solange es geht, werde ich weitermachen."