Ganz der "Arsch der Welt" ist es ja nicht, schmunzelt Berti. Er steht am Ufer eines kleinen Sees an der Einfahrt zum Simonshof, drei Kilometer außerhalb von Bastheim im idyllischen Besengau. Er lacht: "Aber wenn ich das Fenster aufmache, kann ich ihn riechen."
Trotzdem fällt dem 55-Jährigen kein Ort ein, an dem er in diesem Moment lieber wäre. Zwölf Jahre hat er auf der Straße gelebt, bevor ihn das Leben in den Heimathof Simonshof spülte. Was für Außenstehende ein wenig derb klingt, ist die wohl kratzbürstigste Liebeserklärung, die man einem Ort machen kann. "Hier ist man wirklich aufgehoben."
Einem Ort? Einer Einrichtung? Für 85 Bewohner ist der Simonshof – ein dörflich anmutendens Anwesen, bestehend aus ehemaligen Bauernhäusern, einer früheren Mühle und jeder Menge Land – so viel mehr. Es sind Menschen, die durchs Raster gefallen sind, die den Halt im Leben und den Platz in der Gesellschaft verloren haben. Ihnen gibt der Simonshof, eine Einrichtung für "Menschen in besonderen Lebenslagen" und getragen vom Würzburger Diözesan-Caritasverband, ein Stück Stabilität und Hoffnung.
Wie Berti auf der Straße und zwölf Jahre später im Heimathof Simonshof landete
Zwölf Jahre hat Berti in Würzburg auf der Straße gelebt. Eine "bewusst getroffene Entscheidung" sei das gewesen. In einem anderen Leben war er einmal Student der Sozialpädagogik, Ehemann, Vater, Arbeitnehmer. Bis, ja bis...
Berti ist kein Mann der vielen Worte: Arbeitslosigkeit, Trennung von der Frau, Hartz IV. "Ich hab' meinem alten Leben adé gesagt." Besonders in der Anfangszeit auf der Straße fühlte er sich einfach nur frei. "Da ist keiner mehr, der Erwartungen an dich stellt."
"Seine Mama" nennt Berti liebevoll die Sozialpädagogin
Nach zwölf Jahren war er gesundheitlich am Ende. "Für die 200 Meter von meiner Platte", Berti meint seinen Schlafplatz, "zum Lidl brauchte ich 30 Minuten." Ein Franziskanerpater der Straßenambulanz gabelte ihn auf, ließ ihn ärztlich versorgen.
Eine künstliche Herzklappe brachte Bertis Körper wieder in die Spur, das Team des Simonshofs – Berti nennt seine dort zuständige "Sozpäd" liebevoll "seine Mama" – widmete sich Bertis Geist und Seele. "Das Personal ist super." Auch wenn ihm durchaus mal "in den Allerwertesten getreten" worden sei, wie er erzählt.
Es sind anspruchsvolle Aufgaben, die die Mitarbeiter im Simonshof täglich bewältigen, so Einrichtungsleiter Stefan Gerhard. Rund 170 Menschen arbeiten dort, teils in der Wohnungslosenhilfe, teils im angegliederten Pflegeheim Camillus mit derzeit 78 belegten Plätzen.
Das Pflegeheim, das ursprünglich ausschließlich für pflegebedürftige Wohnsitzlose konzipiert war, steht inzwischen allen Menschen der Region offen. "Kein Tag gleicht dem anderen, das macht die Arbeit auf der einen Seite sehr interessant und abwechslungsreich, andererseits aber auch anstrengend", weiß Gerhard.
Warum viele Plätze in Wohnsitzlosenhilfe und Pflegeheim frei sind
Der angespannten Personalsituation sei es geschuldet, dass 35 der eigentlich 120 Plätze in der Obdachlosenhilfe, über 20 Plätze der eigentlich 104 Plätze im Pflegeheim derzeit frei bleiben müssen. "Dabei ist die Nachfrage sehr viel größer", so Gerhard. Eine Entwicklung, die sich angesichts steigender Energie- und Lebensmittelpreise künftig weiter zuspitzen könnte.
"Ich rechne tatsächlich mit einer Verschlechterung für viele Bevölkerungsteile", sagt Gerhard. Aus seiner früheren Tätigkeit in der Schuldnerberatung wisse er, wie schnell sich eine finanzielle Situation zuspitzen kann, wenn kaum freie Einkommensteile als Spielraum zur Verfügung stehen. "Damit einhergehend werden sich schon vorhandene soziale Schwierigkeiten zuspitzen und möglicherweise eskalieren." Am Ende werde die Wohnungslosigkeit zunehmen. "Aktuell ist davon nichts zu verzeichnen. Diese Folgen treten ja erst nach einer zeitlichen Verzögerung auf."
Das Faszinierende an der Arbeit mit Wohnsitzlosen
Was dagegen derzeit bereits deutlich im Simonshof zu spüren ist, ist der Fachkräftemangel im Pflegebereich. Dieser, Corona und die "kurzfristige Übernahme der Leitungsfunktion" nach dem überraschenden Tod des vorherigen Einrichtungsleiters Albrecht Euring 2021 haben den 60-jährigen Stefan Gerhard im vergangenen Jahr beschäftigt.
Doch der Diplom-Sozialpädagoge ist optimistisch: Nach einem Jahr Grundlagenarbeit und diversen internen Umstrukturierungen will er 2023 das Thema Personalsuche in den Fokus rücken. Gerhard selbst ist seit über 30 Jahren in der Wohnungslosenhilfe tätig, über 10 Jahre davon als stellvertretender Leiter im Simonshof. Besonders faszinierend findet er die Lebensgeschichten der Menschen. "Sie sind vielfältig und geprägt von Brüchen in den Lebenslinien, oft ausgelöst durch besondere Krisen."
Für Klaus, 60, aus Dresden waren es Mauerfall und Wende, gefolgt von Arbeitslosigkeit und Alkohol, die sein Leben ins Wanken brachten, wie er offen erzählt. Harald, 58, aus Würzburg, strauchelte nach dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren, als er dem Essen entsagte und dem Wodka verfiel. Der Mann, der einst als Müllwerker arbeitete, kam im Oktober nach seinem Entzug abgemagert und am Rollator gehend nach Simonshof. Inzwischen hat er sich berappelt. "Ich esse, ich habe Freude am Leben. Es geht wieder aufwärts."
"Letztlich müssen meist verschiedene Umstände gleichzeitig mit persönlichen Krisen zusammentreffen, um einen Bruch auszulösen", weiß Gerhard. Manchmal reiche aber auch ein einzelnes Ereignis. "Insofern kann es tatsächlich jeden treffen." Das zeigten die Biographien, die durch alle Bevölkerungsschichten gehen. Den Simonshof-Bewohnern begegnet Gerhard Aug in Auge. Nur so könne die Hilfe vom Gegenüber auch angenommen werden.
Im Blick hat Gerhard nicht das Scheitern, sondern die Fähigkeiten und Qualitäten der Bewohner. "Sie haben ja irgendwann mal ein ganz konventionelles, normales Leben geführt." Wären nur ein paar Umstände zu einem gewissen Zeitpunkt vorteilhafter gewesen, wäre die Entwicklung vermutlich geradlinig verlaufen.
Der Simonshof hat Struktur und Regelmäßigkeit zurück in Bertis Leben gebracht. Von 8 bis 15 Uhr arbeitet er täglich in der "Beschäftigung". Wenn er nicht Wäscheklammern zusammensetzt, trifft er andere Bewohner bei Petra am Kiosk, puzzelt, sieht fern oder liest. Berti ist medizinisch versorgt, therapeutisch unterstützt.
Seine größte Sorge, als er vor knapp zwei Jahren nach Simonshof kam: "Ist der Aufenthalt hier zeitlich begrenzt?" Diese Angst habe ihm Stefan Gerhard im Erstgespräch genommen. "Da oben ist die zeitliche Begrenzung", hätte der Einrichtungsleiter damals gewitzelt und nach hinten genickt. Berti sagt, damals habe er nicht gleich verstanden. Heute weiß er, dass Gerhard Richtung Friedhof deutete.
Und dann? Ist der Simonshof End- oder Durchgangsstation?
Doch nicht alle Bewohner bleiben auf unbestimmte Zeit in Simonshof. Abhängig sei die Aufenthaltsdauer letztlich von der Hilfeform, die gewährt wird. Drei Optionen gibt es: Im "Hilfebereich für seelisch Behinderte", also im Falle von psychischen Erkrankungen, ergeben sich längere Verweildauern. Rund die Hälfte der Simonshof-Bewohner fallen unter diese Hilfeform. Bei der Hilfe zur Beheimatung, das betrifft etwa 25 Prozent der Bewohner, bleiben die Klienten auf Dauer in Simonshof bei reduzierter Betreuungsintensität.
Bleiben noch jene 25 Prozent, die nach klassischer Hilfeart gefördert und eines Tages – Gerhard nennt als Richtwert 24 Monate – zurückgeführt werden sollen in ein konventionelles Leben mit eigener Wohnung und eigenem Einkommen. Bei jenen Bewohnern müssen Gerhard und seine Mitarbeiter den Spagat schaffen: Sicherheit geben und zeitgleich anleiten, den sicheren Hafen wieder zu verlassen.
Über Vermittlungsstatistiken, große und kleine Erfolge
Der Sprung zurück ins völlig selbstbestimmte Leben "kommt in unserer Einrichtung nicht so oft vor". Daraus macht Stefan Gerhard keinen Hehl. Dafür sei das Angebot für schwierige Bedarfslagen mit der Möglichkeit der Beheimatung und einem späteren Wechsel in die Pflegeeinrichtung im Simonshof zu gut. "Deshalb bekommen wir überproportional viele Klienten mit diesen Bedarfen vermittelt."
Leider, findet Gerhard manchmal, denn gerade im Hinblick auf die großen Werkstätten und die Möglichkeit, sogar versicherungspflichtige Arbeitsplätze für einen begrenzten Zeitraum anbieten zu können, kann der Simonshof auch andere Bedarfe bedienen.
Doch was ist Erfolg? Gerhard will sich nicht allein auf die Verselbstständigung fokussieren. Auf Vermittlungsstatistiken blickt er gelassen. "Jede Stabilisierung, jede Verhinderung einer Verschlechterung, jede Zuführung zu medizinischer Hilfe" sind für ihn Erfolge. Berti beispielsweise hat klare Vorstellungen seine Zukunft betreffend. "Gesund bleiben", sagt er. Dafür seien die Bedingungen im Simonshof ideal. Berti will bleiben.
Der Heimathof Simonshof: eine der größten Wohnungslosenhilfe-Einrichtungen Deutschlands
- Die Finanzierung: Stationäre Einrichtungen fallen in Bayern in die Zuständigkeit der Bezirke. Wohnungslosenhilfe wird als Sozialhilfe gewährt. Wird sie bewilligt, wird sie in Form von Pflegesätzen gewährt. In diesen Pflegesätzen sind alle Personal- sowie Sachkosten enthalten. Bei entsprechender Belegung arbeitet die Einrichtung kostendeckend. Die Klienten erhalten die Hilfe als Hilfe zum Lebensunterhalt (in Form von Unterkunft, Heizung, Verpflegung) und in Form von persönlicher Betreuung. Dazu kommen ein Barbetrag, derzeit monatlich 121,23 Euro, sowie eine Bekleidungshilfe, eventuell eine Motivationsprämie aus der Tätigkeit im Rahmen der Beschäftigung in Höhe von bis zu 103 Euro monatlich.
- Die Geschichte: 1887 erwarb der "Verein für Arbeiterkolonien in Bayern" vier Bauernhäuser, eine Mühle und 214 Hektar Land. Wanderarbeitern wurde dort gegen Mitarbeit auf den Feldern Kost und Logis geboten. In der NS-Zeit wurde der Verein aufgelöst, der Hof ging nach dem Krieg an den Freistaat. In der Nachkriegszeit fanden am Simonshof auch heimatlose Jugendliche Unterkunft und absolvierten ihre Lehre. Daneben wurde er zur Heimat für Wohnsitzlose. Mit der Übergabe an den Caritasverband der Diözese Würzburg wurde 1951 festgeschrieben, dass der Hof "allzeit als Heimat- und Fürsorgehof zu erhalten" sei.