Die Sonne hat es schwer an diesem Oktobernachmittag. Nebel hält das Dreiländereck fest im Griff. Ein Willmarser sieht trotz diesigem Dunst sofort klar: Die Frau vor der Kirche ist keine Einheimische. "Die Uhr geht falsch!" – er zeigt zum Kirchturm. Tja, man fällt auf als Fremde in dem Örtchen. Erst recht als Journalistin. Keine zwei Minuten, nachdem man es betreten hat.
Umso erstaunlicher, dass die riesige Marihuana-Plantage, die Kriminelle in der Scheune eines Dreiseithofes am Ortsrand anlegten, keinem ins Auge gefallen sein soll. Zehn Monate lang wurde dort Cannabis in rauen Mengen angebaut und – so die Erkenntnis im derzeit laufenden Prozess –mehrfach geerntet.
Gewagter Standort in versteckter Lage
Dabei war der Standort der Plantage durchaus "gewagt", wie Willmars Bürgermeister Reimund Voß erläutert. Er führt vorbei an Fachwerkhäusern und der ehemaligen jüdischen Synagoge hin zu besagtem Dreiseithof.
"In der Nähe wohnen zwei Polizeibeamte, Justizvollzugsanstalts-Personal und ich." Hauptberuflich arbeitet Voß als Staatsanwalt, seit 20 Jahren führt er die Gemeinde als Bürgermeister. Das kriminelle Treiben in der Nachbarschaft haben offensichtlich weder er noch die Vorgenannten bemerkt.
Die "versteckte Lage" des Gehöfts ist für Voß einer der Gründe, weshalb das Drogen-Geschäft so lange geheim blieb. Es liegt zurückgesetzt am Ortsrand, Schafe und zwei Esel grasen rückwärtig auf einer Koppel. "Wenn es irgendwie gemuffelt hätte oder komische Gestalten ein- und ausgegangen wären, wenn etwas in der Richtung zu mir vorgedrungen wäre, hätte ich selbstverständlich nachgeforscht."
So wurde Voß Ende November 2021 vom Polizeieinsatz genauso überrascht wie seine Bürgerinnen und Bürger, als der Ort über Nacht deutschlandweit Berühmtheit erlangte. Bei einer Routinefahrt entdeckten zwei Streifenpolizisten die 1500 Marihuana-Pflanzen mit einem Straßenverkaufswert von knapp einer halben Million Euro.
"Da sind wir wirklich im Bereich Schwerkriminalität", ordnet der Leiter der Mellrichstädter Polizeiinspektion, Elmar Hofmann, den Fall ein. Seit 1990 arbeitet der Polizeichef, der selbst im Willmarser Ortsteil Filke lebt, in der Region Main-Rhön. "Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in den letzten 32 Jahren jemals eine Plantage derartigen Ausmaßes hatten." Hofmann verweist auf die Professionalität der Anlage: Belüftung und Elektrik seien in Top-Zustand gewesen. Deshalb, schätzt er, dürfte wenig Geruch nach außen gedrungen sein.
Heute stehen die Scheunen baufällig, im Innenhof meterhoch Gräser und Unkräuter. Wären da nicht unzählige Pflanztöpfe und Pflanzstecken aufgehäuft an einer Scheunenwand, nichts erinnerte an jene Plantage, die schon zu ihren Bestzeiten durch Unauffälligkeit brillierte. "Bei Sturm weht's die übriggebliebenen Pflanztöpfe zu uns herüber und wir tragen sie zurück", erzählt die Nachbarin, die von ihrer Haustür aus direkt auf die Scheune blickt.
Gerüche hingegen seien da über all die Monate keine gewesen, jedenfalls keine, die sie – ohne Drogen-Vorerfahrung – irgendwie habe zuordnen können. Und wenn es ab und an gemüffelt habe, "dann haben wir gesagt: Ah, die Uschi verbrennt wieder ein paar Schuh!"
Ganz anders äußert sich ein Willmarser, der eine Straße weiter wohnt. Gerade morgens habe er immer wieder "Gras-Geruch" wahrgenommen. "Ich hab' halt gedacht, da kiffen welche." Ein Schwerverbrechen hat er nie vermutet. "Ich war selber mal Kiffer." Die von der Regierung in Aussicht gestellte Cannabis-Legalisierung würde er auch heute noch begrüßen.
Polizisten stürmen mit Rammbock die Scheune in Willmars
Ob die Situation anrüchig war oder nicht: Warum an jenem regnerischen Abend, als zufällig zwei Streifenpolizisten durch die Dorfstraße patrouillierten, dann offiziellen Verlautbarungen zufolge "typischer Gras-Geruch" in der Luft lag, darüber kann Polizeichef Hofmann rückblickend nur spekulieren. Er nennt es jedenfalls "einen Sechser im Lotto". "Vielleicht gab es eine technische Störung oder der Aufseher hat kurz das Tor geöffnet und ein Schwall trat nach außen."
Einmal errochen, nahm ein Einsatz seinen Lauf, gegen den – laut der direkten Nachbarin – jeder Film-Tatort blass aussieht. "Ein Rambazamba! Mit einem Rammbock stürmten sie die Seitentür der Scheune, mit Helmen und Schutzausrüstung. Im ganzen Haus Taschenlampen-Geleuchte." Im Schlafanzug sei "der Aufseher" von fünf Beamten umringt abgeführt worden. Im Nachgang wurde auch der offizielle Besitzer der Scheune, ein in Hessen wohnhafter Elektriker, verhaftet. Gesteuert worden war das Plantagen-Projekt wohl von Drahtziehern aus dem Ausland.
durch die Lappen gegangen!"
Ihren Namen will die Nachbarin, wie die meisten Anwohnerinnen und Anwohner, die sich zu dem Fall äußern, nicht veröffentlicht sehen. Eine scheinbare Anonymität, das ist den Willmarsern bewusst. Vor Ort weiß am Ende jeder, wer was erzählt.
Auskunftsfreudig sind trotzdem die meisten. Kein Wunder, das Dorf ist geübt im Berichten. "Aus Willmars kommst du – hast du mir nichts mitgebracht?", wurde immer wieder augenzwinkernd gescherzt. Über den Spruch "Da ist euch aber jede Menge Gewerbesteuer durch die Lappen gegangen!" können sie inzwischen nur noch müde lächeln.
"Anfangs hätten wir hier eine Bratwurstbude aufmachen können", berichtet ein 26-jähriger Nachbar. Sein Haus und der Drogen-Dreiseithof teilen sich gemeinsam eine Einfahrt. Bei ihnen habe sich der Elektriker mit Ehefrau und Tochter Ende 2020 ganz offiziell vorgestellt, als er den Hof erwarb. Wie es sich eben gehört auf dem Land. "Wir haben uns gefreut. Eine Familie!", erzählt der 26-Jährige.
Die diffusen komischen Gefühle reichten nicht
Dass vor dem Wohnhaus zunächst die Scheunen renoviert wurden, hat keinen im Ort irritiert. "Der Mann muss schließlich als Elektrikermeister sein Geld verdienen. Da muss er erst seine Arbeitsstätte herrichten", habe man im Dorf gedacht, berichtet ein im Justizvollzug arbeitender Willmarser.
Ähnlich der Erklärungsansatz des Bürgermeisters: "Die Legende lautete ja, es soll saniert werden." Prinzipiell nichts Ungewöhnliches für Willmars: Ein Auswärtiger erwirbt günstig einen Hof, renoviert, macht daraus ein Feriendomizil, zieht selbst ein oder vermietet. Geschichten wie diese gibt es viele in der Streutalgemeinde.
"Manch einer aber hatte wohl doch zumindest ein komisches Gefühl", erzählt Polizeichef Hofmann. Unzählige Gespräche hat der Filker im Nachgang inzwischen mit Freunden und Bekannten im Dorf geführt. Dieses Gefühl sei allerdings bei allen so diffus, so wenig verifizierbar gewesen, dass es die Betroffenen nicht einmal untereinander in der Nachbarschaft kommunizierten. Geschweige denn an ihn oder eine andere offiziellere Stelle weiterreichten.
Am Ende zog weder der Elektriker noch dessen Familie in Willmars ein, stattdessen ein Mann, der im Prozess der "Gärtner" oder "Aufseher" genannt wird. Er lebte zurückgezogen. Grüßte, ging einkaufen. Mehr nicht. Stutzig wurden die direkten Nachbarn auch darüber nicht. "Sie wissen nicht, was wir schon erlebt haben! Wir sind Kummer gewohnt."
Einfach nur mal normale Nachbarn!
Der Dreiseithof hatte, so erzählt der 26-Jährige, zahlreiche schillernde Vorbesitzer und eine wechselhafte Geschichte. Er berichtet von Frauen, die sich mit Gewehren im Innenhof tummelten, von einem Messie, der Tiere hortete, aber nicht versorgte und einem ehemaligen Studienrat, der gerne unter seiner selbst konstruierten solarbetriebenen Außendusche stand.
"Wir waren einfach nur froh, dass wir endlich unsere Ruhe hatten." Keine zugeparkten Einfahrten, keine bestialischen Tiergerüche, keine blutigen Finger, die es notzuversorgen galt. "Wir haben gerne unsere Ruhe und lassen sie im Gegenzug auch anderen", charakterisiert der 26-Jährige seine Familie.
Er blickt durch den baumelnden Traumfänger vor seiner Haustür auf die inzwischen verwilderte Hofstätte . "Normale Nachbarn", das sei alles, was er sich für die Zukunft wünsche. Neue Interessenten für den Dreiseithof gebe es schon, sollte der derzeitige Besitzer eines Tages enteignet werden. Noch aber laufen die Prozesse.
"Gute Presse für Willmars", wünscht sich der im Justizvollzug tätige Willmarser einige Häuser weiter. Nach der Drogenplantage, findet er, wäre es nun an der Zeit für eine Willmarser Heldengeschichte.