
Die Corona-Krise hat Themen vorübergehend weggespült, die zuvor in der Wirtschaft von herausragender Bedeutung waren. Neben Fachkräftemangel und Unternehmensnachfolge gehört die Digitalisierung dazu.
Verschwunden ist das Thema freilich nicht. Das ist zum Beispiel bei Siemens in Bad Neustadt zu beobachten. Die beiden Werke dort gibt es in Teilen seit 1937. Heute haben sie im weltweit verzweigten Siemens-Konzern eine tragende Rolle, wenn es um die Frage geht, wie Fabriken und damit Arbeitsplätze von der Digitalisierung profitieren können.
In den Siemens-Hallen werden nach Unternehmensangaben pro Jahr 700 000 Elektromotoren zum Beispiel für Industrieroboter hergestellt - in 30 000 Varianten. Seit 2016 ist Bad Neustadt für Siemens die Modellfabrik in Sachen Digitalisierung, was nicht zuletzt an der 2017 in einer Werkshalle eröffneten "Arena der Digitalisierung" zu erkennen ist.
Dazu passt, dass Bad Neustadt für den Riesenkonzern auch den Vordenker in Sachen Digitalisierung stellt: Wolfgang Heuring. Der 61 Jahre alte Mellrichstädter verantwortet den Geschäftsbereich Motion Control mit 30 000 Kunden und 20 000 Beschäftigten in 16 Siemens-Fabriken, darunter Bad Neustadt. In dieser Funktion ist Heuring direkt Klaus Helmrich unterstellt, einem der fünf Siemens-Vorstandsmitglieder um den Vorsitzenden Joe Kaeser.
Allein diese Nähe zur Chefetage zeigt, wie hoch Heuring, die Digitalisierung und damit die Vordenkerfabrik Bad Neustadt von Siemens eingestuft werden. In der Tat sollen die Werke in der Kreisstadt nach Heurings Worten die "Future of Work" für den Konzern herausfinden, also die Frage, wie in Zukunft gearbeitet wird. Bei der Umsetzung der Digitalisierung sei kein Siemens-Werk so weit wie Bad Neustadt, sagt der passionierte Orgelspieler.

Wie das im Alltag aussieht, lässt sich am besten anhand des "digitalen Zwillings" erklären. So nennen Heuring und sein Leiter für Digitalisierung, Peter Zech, die Kopie zum Beispiel einer Werkzeugmaschine am Computer. An ihr können Ingenieure alle möglichen Handgriffe digital ausführen, damit sie später in einem der Werke in Bad Neustadt installiert oder umfunktioniert werden kann - so, als stünde die Maschine in echt vor dem Ingenieur. Erst wenn der digitale Zwilling betriebsbereit ist und alles geprüft wurde, geht die echte Maschine in Betrieb.
Selbst ganze Arbeitsplätze werden nach Darstellung von Zech in Bad Neustadt digital durchgeplant. Wie die Regale bezogen auf die jeweilige Körpergröße der Benutzer angebracht werden müssen, wie die Handgriffe am effektivsten sind, wie der Materialfluss an den Arbeitsplätzen ist - all das werde am Computer und mit lebensechten Grafikfiguren geplant.
Heuring sieht in der Digitalisierung ein grundsätzliches Potenzial für Fabriken: Sie steigere deren Wettbewerbsfähigkeit, weil sie dadurch unter anderem flexibler und effizienter seien. So habe die Produktivität des Siemens-Standortes Bad Neustadt in den vergangenen zwei Jahren um 7 Prozent zugelegt. Die Auslastung der Kapazität sei um 27 Prozent nach oben gegangen, so Heuring.
Solche Errungenschaften hat sich Siemens einiges kosten lassen: 130 Millionen Euro wurden in den vergangenen fünf Jahren in die Digitalisierung und Automatisierung der Werke in Bad Neustadt gesteckt. Aus dem vor gut zwei Jahren aufgelegten Siemens-Zukunftsfonds mit einem Gesamtvolumen von 100 Millionen Euro bis 2022 habe der Standort gleich zu Beginn 500 000 Euro bekommen, so Heuring, um vor allem die Belegschaft in puncto Digitalisierung fortzubilden.
Unter anderem mussten die Mitarbeiter programmieren lernen, sagt Peter Zech. Sein 18-köpfiges Team kümmert sich um nichts anderes als eben um die Digitalisierung der Werke. Waren es früher klassische Handwerker, die in den Fabriken eingestellt wurden, "so brauchen wir jetzt mehr Software-Entwickler".
Freilich sah die Zukunft für Siemens in Bad33 Neustadt nicht immer positiv aus. 2010 und 2016 schreckte der Konzern mit der Ankündigung auf, massiv Stellen abbauen zu wollen. Wenig später ruderten die Verantwortlichen wieder zurück. In diesem Zusammenhang kam von aus der Konzernzentrale immer wieder die Aussage, dass Bad Neustadt wegen seiner tragenden Rolle bei der Digitalisierung einen sicheren Stand habe.
Längst sieht Heuring den Standort über Siemens hinaus als Modell an. So seien etwa 2017 rund 7500 Kunden in das Werk gekommen, um sich die digitale Vorgehensweise anzuschauen. Auch der britische Sender BBC sei schon da gewesen. Für Heuring ist Digitalisierung aber kein Pirouettendrehen, sondern "ein Hebel, um die Zukunft des Standortes zu sichern".