Es war der 28. Januar 2010, da kam die Hiobsbotschaft aus München: Siemens will in Bad Neustadt 840 von insgesamt knapp 2000 Stellen abbauen. Ein schwerer Schlag nicht nur für die Mitarbeiter, sondern für die ganze Region. An diesen 840 Stellen hingen schließlich fast ebenso viele Familien.
Doch die Schockstarre angesichts der katastrophalen Ankündigung des Siemensvorstands währte nicht lange. Bereits eine Viertelstunde nach der Mitarbeiterversammlung, so erinnert sich der damalige Betriebsratsvorsitzende Bernhard Omert, war die Belegschaft vor dem Tor für die erste Protestveranstaltung. Schon damals kamen Bürgermeister Bruno Altrichter und Landrat Thomas Habermann dazu und signalisierten Unterstützung aus der Lokalpolitik. Später folgte eine Resolution der Bürgermeister aus den Landkreisen Rhön-Grabfeld und Bad Kissingen.
Viele Protestaktionen
Es war eine Protestaktion von vielen. Denn die Siemens-Mitarbeiter blieben nicht allein. Unterstützung gab es von allen Seiten, aus der gesamten Region. Schnell hatte sich der Slogan etabliert: Die Rhön steht auf. Unterstützung kam nicht nur von anderen Betrieben, sie kam von Ämtern, aus Schulen und auch von den Kirchen, erinnern sich Omert und der heutige Betriebsratsvorsitzende Oliver Mauer. Von den örtlichen Geistlichen ebenso wie von Bischof Friedhelm Hofmann, der den damaligen Siemenschef Peter Löscher persönlich darum bat, die Entscheidung noch einmal zu überdenken. Beeindruckend war ein Kreuzweg, der mit 1700 Teilnehmern vom Marktplatz bis zu den Werkstoren von Siemens führte.
Tausende waren es auch, die jedesmal zu den von der IG Metall organisierten Protestkundgebungen auf den Bad Neustädter Marktplatz erschienen. Politiker aller Couleur kamen außerdem nach Bad Neustadt, um den Siemensianern ihre Unterstützung zuzusagen. Fast immer begleitet von Aktionen vor den Werkstoren. Es verging keine Woche, in der nicht von irgendeiner Seite gegen die Pläne von Siemens für Bad Neustadt protestiert wurde. Immer friedlich, immer mit Augenmaß, wie Omert und Mauer betonen, auch wenn die Wut oft ziemlich groß war. Doch die Unterstützung von allen Seiten gab Auftrieb.
Mit 42 Bussen nach München
Man beließ es aber nicht bei Protesten vor Ort. Ende April starteten morgens gegen 7 Uhr 42 Busse mit Protestierenden nach München zur Konzernzentrale. Nicht nur Siemensianer saßen in den Bussen. Auch Landrat Thomas Habermann und Bürgermeister Bruno Altrichter sowie Kirchenvertreter sind mit an Bord. Main-Post-Redakteurin Ines Renninger sitzt in einem der Busse und berichtet live vom Geschehen unterwegs und in München, wo die Neustädter kurz vor 12 Uhr eintreffen. "Die Stimmung ist genial" schrieb sie damals, als Bernhard Omert und der bayerische IG-Metallchef Werner Neugebauer auf dem Wittelsbacher Platz vor der Siemenszentrale sprachen und Landrat Thomas Habermann vom Dach eines der mitgefahrenen Feuerwehrautos die Lage peilte. Als gegen 18.30 Uhr die Busse wieder in Bad Neustadt eintrafen fasste IG-Metall-Vertrauenskörperleiter Werner Schmitt die medienwirksame Gemeinschaftsaktion Aktion so zusammen: "Ich fands ergreifend."
Während die lokalen Politiker alle hinter den Bad Neustädter Siemensianern standen und sie beim Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze ohne Wenn und Aber unterstützten, tat sich die große Politik in München schwer, klare Position gegen den Arbeitsplatzabbau zu beziehen. Entsprechend groß war die Enttäuschung in der Rhön, speziell bei Bürgermeister Altrichter und Landrat Habermann. Was sie aber nicht davon abhielt, sich in München immer wieder für den Siemensstandort stark zu machen. Immerhin schickte Ministerpräsident Horst Seehofer damals seinen Wirtschaftsminister Martin Zeil nach Bad Neustadt. Allerdings war das ein wenig ergiebiges Gespräch, wie sich Omert und Mauer erinnern.
Staatsregierung beeindruckt
Die Rhön muss mit ihren Protestaktionen und er Intervention der lokalen Politiker Seehofer dann aber doch beeindruckt haben. Mitte März hatte Horst Seehofer zu einem Treffen nach München geladen mit weiteren Vertretern der Staatsregierung sowie Verantwortlichen von Siemens. Mit am Tisch Landrat Thomas Habermann und Bürgermeister Bruno Altrichter. Danach stand fest, es wird keine betriebsbedingten Kündigungen geben. Im Juli kam Seehofer dann schließlich selber nach Bad Neustadt.
Da war schon viel an Verhandlungen im Rahmen des Interessensausgleichs zwischen dem Betriebssrat und dem Siemensvorstand gelaufen. Sehr konstruktive Verhandlungen, wie sich Omert und Mauer erinnern. Ihnen ging es damals nicht darum, bestimmte Arbeiten in Bad Neustadt zu erhalten. Ihnen ging es um den Erhalt von Beschäftigung, auch wenn das ganz andere Arbeiten bedeutete. Wann genau da die E-Mobilität ins Gespräch kam, das wissen beide nicht mehr ganz genau. Aber irgendwann lag das Angebot auf dem Tisch wegfallende Stellen durch den Aufbau anderer Bereiche zu ersetzen - unter anderem durch den Berich e-car, der heute zu Valeo-Siemens gehört. Auf politischer Ebene kam die Modellstadt E-Mobilität Bad Neustadt dazu.
Deutlich mehr Arbeitsplätze als 2010
Am Ende gab es keine betriebsbedingten Kündigungen und 2020, zehn Jahre später, ist die Beschäftigtenzahl inklusive der e-car-Sparte von Valeo-Siemens in Bad Neustadt auf heute rund 2400 gestiegen. Mauer und Omert und all die vielen, die ihnen damals zur Seite standen können zufrieden zurück blicken. "Damals sind Verbindungen entstanden, die noch heute wichtig sind", sagt Oliver Mauer. Er ist ebenso wie Omert noch heute dankbar für den großen Rückhalt von damals.
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