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Oberwaldbehrungen
Jüdisches Leben in der Rhön: Zwei Australierinnen und ihre emotionale Reise zu ihren Wurzeln
Nur durch die transkontinentale Zusammenarbeit von Lokalhistorikern entdeckten zwei Australierinnen 16 Gräber ihrer jüdischen Vorfahren aus Oberwaldbehrungen.
Anders als dieses guterhaltene Grab von Jakob Schloss sind viele Gräber auf dem Jüdischen Friedhof von Oberwaldbehrungen kaum noch zu entziffern. Die Witterung und Friedhofsschändungen haben tiefe Spuren hinterlassen.
Foto: Natalia Mleczko | Anders als dieses guterhaltene Grab von Jakob Schloss sind viele Gräber auf dem Jüdischen Friedhof von Oberwaldbehrungen kaum noch zu entziffern. Die Witterung und Friedhofsschändungen haben tiefe Spuren hinterlassen.
Natalia Mleczko       -  Natalia Mleczko ist in Polen aufgewachsen und lebte dann in Rostock. Nach einer Ausbildung und diversen Jobs studiere sie auf dem Zweiten Bildungsweg Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen im Master an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seit 2022 arbeitete sie als freie Journalistin. Natalia Mleczko ist seit April 2024 Volontärin bei der Main-Post.
Natalia Mleczko
 |  aktualisiert: 25.09.2024 02:38 Uhr

Der jüdische Friedhof in Oberwaldbehrungen ist seit geraumer Zeit verschlossen. Doch an diesem Tag öffnet sich das verschnörkelte, aber in die Jahre gekommene Eisentor einer besonderen Besuchergruppe – zwei jüdischen Frauen aus Australien und vier engagierten Franken. Die Gruppe ist auf der Suche nach den Gräbern der Familie von Lauren Levin und Janine Schloss, die einst in Oberwaldbehrungen lebte.

Levin und Schloss sind Cousinen und stammen ursprünglich aus Südafrika. Heute leben beide in Australien. Ihr Großvater Walter Schloss verließ 1936 als 18-Jähriger das Rhöndorf Oberwaldbehrungen. Er war tief verletzt vom grassierenden Antisemitismus und Faschismus dieser Zeit und suchte ein freies Leben ohne Repressionen in Südafrika. Einem Teil seiner Verwandten half er, aus Deutschland zu entkommen.

An diesem Tag wollen Levin und Schloss nun wissen, wo der Rest der Familie, namens Schloss und Reis, ihres Großvaters begraben liegt. Der jüdische Friedhof in Oberwaldbehrungen ist für Auswärtige auf Anhieb nicht ganz einfach zu finden. Die betonierte Zufahrtsstraße zur Grabstätte hört urplötzlich auf.

Der Hobby-Fotograf Matthias Poppe fotografierte die unleserlichen Gräber und ermöglichte es so, dass die Nachfahrinnen der Verstorbenen nun wissen, wo ihre Ahnen begraben liegen. 
Foto: Natalia Mleczko | Der Hobby-Fotograf Matthias Poppe fotografierte die unleserlichen Gräber und ermöglichte es so, dass die Nachfahrinnen der Verstorbenen nun wissen, wo ihre Ahnen begraben liegen. 

Nach wenigen Metern Waldweg inmitten hochgewachsener Waldkiefern erscheint die letzte Ruhestätte der Oberwaldbehrunger Jüdinnen und Juden des 19. und 20. Jahrhunderts. Gut 132 Menschen wurden hier beerdigt. Auch die Familien Schloss und Reis fanden hier ihre letzte Ruhestätte.

Der letzte jüdische Mitbürger der Gemeinde wurde 1937 auf dem jüdischen Friedhof beerdigt

Der jüdische Friedhof befindet sich hinter einer knapp einen Meter hohen alten Steinmauer. Die Ruhestätte ist schon lange nicht mehr im Gebrauch. Schon seit 1937 wurde keine Jüdin beziehungsweise kein Jude mehr an diesem friedlichen Ort am Rande des kleinen Gemeindeteils von Ostheim mit seinen 204 Bewohnern beerdigt. Der Aufstieg des Nationalsozialismus ab 1933 und der anschließende Holocaust veränderten das Leben der Juden in Oberwaldbehrungen – und in Deutschland sowie darüber hinaus – für immer.

Der Friedhof ist lediglich zu einem Drittel mit Gräbern belegt. Ein Sinnbild der Auswirkungen der Shoah auf die jüdische Gemeinde. Die hebräische Bezeichnung für die Gräber ist Mazewa. Ein Jahr nach der Bestattung des Verstorbenen wird im Judentum in einer Zeremonie ein Grabstein gesetzt. Dadurch sollen die Nachkommen der Verstorbenen nicht vergessen werden. Der Brauch wirkt in die heutige Zeit hinein – denn Lauren Levin und Janine Schloss haben ihre verstorbenen Ahnen aus Oberwaldbehrungen nicht vergessen.

Der Aschaffenburger Oded Zingher zeigt das Grab von Jette Rosenthal, die von 1836 bis 1901 lebte und auf dem Jüdischen Friedhof in Oberwaldbehrungen begraben wurde. Rosenthal war die Ururgroßmutter von Levin und Schloss. 
Foto: Natalia Mleczko | Der Aschaffenburger Oded Zingher zeigt das Grab von Jette Rosenthal, die von 1836 bis 1901 lebte und auf dem Jüdischen Friedhof in Oberwaldbehrungen begraben wurde.

Eine erfolgreiche Ahnensuche über drei Kontinente

Dass Schloss und Levin an den Gräbern ihrer Ahnen heute stehen können, verdanken sie der Arbeit vier besonders engagierter Menschen aus Unterfranken und eines Neuseeländers. Die Suche nach der Vergangenheit begann in Aschaffenburg bei Oded Zingher und Anni Kropf, die mit der Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Ruth Weiß freundschaftlich verbunden sind.

Zingher ist Vorsitzender des Vereins jüdisches Leben in Unterfranken. Seit Jahren sammelt er Informationen zum Judentum der Region in der Biografischen Datenbank jüdisches Unterfranken. Die Historiker übermitteln ihre Informationen an Zingher, der wiederum die Datenbank mit den Fragmenten füllt. So wie die hiesigen Lokalhistoriker aus Rhön-Grabfeld, Matthias Poppe und Elisabeth Böhrer.

Die Witterung lässt die Erinnerung verblassen

Die Witterung oder Friedhofsschändungen haben vielen jüdischen Grabmälern in den letzten Dekaden zugesetzt. Viele Inschriften verblassten im wahrsten Sinne des Wortes. Viele Gräber sind in Hebräisch verfasst, eine weitere Hürde für das Entziffern der Inschrift. Dadurch verlieren sich viele Familienlinien. Die Suche für die Nachkommen wird so besonders erschwert.

Transkontinentale Ahnensuche: Die Nachkommen der Schloss/Reis Familie, Janine Schloss und Lauren Levin (in der Mitte). Die Lokalhistoriker (von links)  Oded Zingher, Elisabeth Böhrer, Matthias Poppe, Anni Kropf und der Bürgermeister der Stadt Ostheim (links), Steffen Malzer.
Foto: Natalia Mleczko | Transkontinentale Ahnensuche: Die Nachkommen der Schloss/Reis Familie, Janine Schloss und Lauren Levin (in der Mitte).

Der Bischofsheimer Matthias Poppe machte die Inschriften auf dem Friedhof wieder lesbar. Er fotografierte, teilweise nachts, die Gräber. Erst durch eine ungewöhnliche Fototechnik zeigten sich die Namen der Verstorbenen. Poppe übermittelte seine Erkenntnisse an den Neuseeländer Saar Cohen-Ronen, der die hebräischen Inschriften ins Englische übersetzte und digitalisierte. Diese Daten speisten die Historiker wiederum in Zinghers Datenbank. Dadurch erfuhren die zwei Cousinen über ihre Oberwaldbehrunger Ahnen.

100-Jahrfeier der Menschenrechtsaktivistin und Nelson-Mandela-Freundin Ruth Weiß

Im Zuge der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag der bekannten Menschenrechtsaktivistin, Journalistin, Nelson Mandala-Freundin und -Tante Ruth Weiß in Aschaffenburg sind die zwei Frauen nach Deutschland gereist. Die zwei Cousinen wollten die kurze Zeit in Unterfranken nutzen und der Geschichte ihrer Vorfahren in Oberwaldbehrungen nachgehen. Deshalb legten die zwei Frauen einen kurzen Zwischenstopp im 204-Seelen-Gemeindeteil in der Rhön ein. 

Die Australierinnen wussten zwar, dass ihr Großvater Walter Schloss aus Oberwaldbehrungen stammte. Doch wie groß die Familie einst war, wussten die Cousinen allerdings nicht. Knapp 16 der 132 Gräber rechnet die Expertengruppe den Familien Schloss und Reis zu. Die Historiker fokussierten sich in ihrer Recherche auf die Kernfamilie.

Matthias Poppe (in der Mitte) und Oded Zingher (rechts)  zeigten den Australierinnen Lauren Levin (links) und Janine Schloss (rechts) die Gräber ihrer Ahnen.
Foto: Natalia Mleczko | Matthias Poppe (in der Mitte) und Oded Zingher (rechts)  zeigten den Australierinnen Lauren Levin (links) und Janine Schloss (rechts) die Gräber ihrer Ahnen.

Von einem Grab zum anderen schritt die Gruppe und jedes Grabmal wurde akribisch inspiziert. Poppe erklärte, wem das Grabmal gehörte. Bei den jüngeren Gräbern liegt Urgroßvater Isidor Schloss, der Vater von Walter Schloss. Daneben liegt Justin Schloss, der frühverstorbene Bruder von Walter. Einige Gräber weiter liegt Levins und Schloss' Ururgroßmutter Jette Rosenthal. Zingher übersetzte die Inschriften und erklärte die jüdische Symbolik der Gravuren auf den Gräbern. Böhrer erklärte den Hintergrund, wo die Verstorbenen im Ort lebten.

Ein unglaublich bewegender und herzerwärmender Moment für Levin und Schloss

Ein emotionaler Moment für Schloss, die zum Holocaust an der Monash University forscht. "Die Reise nach Deutschland war emotional gesehen keine leichte Reise", erzählt Schloss. "Aber hier in Oberwaldbehrungen zu sein und so viele Menschen zu treffen, die sich für die Geschichte meiner Familie interessiert haben, war unglaublich bewegend und herzerwärmend." 

Janine Schloss und Lauren Levin hörten aufmerksam zu. Levin fotografierte die Gräber mit dem Smartphone und schrieb noch vor Ort Nachrichten an ihre Mutter in Südafrika, die am anderen Ende der Welt neugierig den Informationen entgegenfieberte. Schloss nahm die Gespräche auf Band auf. Beide wollten den ungewöhnlichen Moment einfangen, als die zwei jüdischen Australierinnen mit vier Unterfranken ihre Ahnen in Oberwaldbehrungen fanden.

 
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