
"Komm!", ruft Landwirt Florian Neuberger. Seine Stimme trägt weit über die grüne Wiese, bis hin zur Böschung des Flüsschens Erft, wo gerade dreißig von seinen Mutterkühen weiden. Die Tiere hören ihn, wenden sich um. "Komm!", ruft Neuberger wieder. Sein "O" ist lang und tief – und der Ton nähert sich dem "Muh" einer Kuh an.
Es funktioniert. Die Leitkuh trabt auf Neuberger zu, weitere Kühe samt halberwachsenen Kälbern folgen. Und umringen den Mann, der viele von ihnen zur Welt gebracht hat, sie füttert, sie impft, sie täglich betreut. Die Leitkuh streckt ihre helle Zunge aus dem Maul und leckt den Bauern freundlich ab.
Rinderzucht in der dritten Generation: Wie lange lohnt sich das noch?
Besucher sehen: ein ländliches Idyll mit glücklichen Kühen auf saftigen Weiden. Der Landwirt sieht: fruchtbare, teils trächtige Mutterkühe mit fleischigen Kälbern. Neubergers Familie lebt in der dritten Generation davon, dass sie Tiere aufzieht, sie auf dem Hof schlachtet, das Fleisch dort auch verarbeitet und als Direktvermarkter vom Hof aus verkauft. Bisher hat sich das rentiert: Die Neubergers im kleinen Bürgstadt im Landkreis Miltenberg sind mit rund 240 Mutterkühen nach eigenen Angaben die größten Mutterkuh-Halter in Süddeutschland.

Aber die Rinderzucht, die Florian Neuberger, 36 Jahre alt, "mit Herzblut" betreibt, ist in den letzten Jahren immer aufreibender, immer schwieriger geworden. Aus der Sicht des Landwirts sind aususufernde Bürokratie, stark steigende Betriebskosten, extrem unsichere Planungsmöglichkeiten und in immer stärkerem Maße von Auflagen abhängige Subventionen daran schuld.
"Als mein Vater den Betrieb noch geführt hat, hatte er höchstens ein Drittel der Verwaltungsarbeit, die ich jetzt habe", sagt Neuberger. Dass beispielsweise für jedes Neuberger-Tier, das nicht am Flüsschen, sondern auf dem betriebseigenen Berghang ein paar Kilometer weiter grast, eine Art "Reisepass" ausgestellt werden muss, ist nicht neu: Der Hang liegt schon in Baden-Württemberg. Aus seuchenrechtlichen Gründen muss jedes einzelne Tier auf der bayerischen Betriebsnummer abgemeldet und auf der badischen Betriebsnummer angemeldet werden.
"Im Vergleich zum Vater habe ich aber einen Haufen mehr Dokumentationspflichten. Etwa wie, womit und wann ich meine Wiesen dünge", seufzt der Landwirt. "Ohne Tablet steige ich sowieso nicht mehr auf den Trecker."
Blühwiesen bedeuten für den Landwirt Zusatzarbeit oder Subventionsverlust
Apropos Wiese: Sprießen dort Blümchen, bedeuten sie für den Landwirt entweder Zusatzarbeit oder Subventionsverlust. Grund dafür ist die neue Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU von 2023, die zwar weiter Subventionen für Landwirte vorsieht, einen Teil aber an Umweltleistungen koppelt. Wie bei Blühblumen.
"Laut Vorgabe sollte ich mit ausgestreckten Armen diagonal über meine Wiesen laufen und dokumentieren, welche Arten ganzflächig vorkommen", sagt Neuberger. "Man bräuchte dafür drei Biologiestudenten!" Kartiert er die Blumen nicht, verliert er eine Förderung.
Agrarreform macht Subventionen immer stärker von Auflagen abhängig
Die europäische Agrarreform sehe eine Vielzahl solcher an Auflagen gekoppelter Gelder vor, sagt der 36-Jährige. Subventionen bekäme er etwa, wenn er das Düngen reduziere oder streiche oder seine Wiesen spät mähe. Aber dadurch würde sich auch sein Ertrag an Winterfutter und dessen Qualität verringern. Dann bringe ihm die Subvention nichts.
Solche Vorgaben nähren bei Landwirten wie Neuberger nur den Ärger auf "die Politik": "Wenn ich 100 Euro für die Blühblumen-Dokumentation bekomme, aber für 200 Euro Futterausfall habe, dann lasse ich es bleiben."
Für den Landwirt hat die Arbeitswoche 65 Stunden
Zeit fürs Blumenzählen hat Neuberger eh nicht. Schon jetzt habe seine Arbeitswoche 65 Stunden, sagt der zweifache Familienvater. Früh am Morgen schließt Neuberger den Fleisch-Verkauf auf, inspiziert den Stall. "Kann sein, dass eine Kuh unerwartet gekalbt hat." Danach mistet er die weitläufigen Ställe aus. Auch wenn ab dem Frühjahr viele Tiere auf der Weide sind, bleiben die hochträchtigen Kühe samt Jungkälbern, Zuchtbulle Moritz und die Rinder, die zur Schlachtung anstehen, drinnen.

Zuchtbulle Moritz, der so viele Kühe begatten soll wie möglich, ist das einzige Rind, das auf Neubergers Hof einen Namen trägt. "Das Schlachtvieh bekommt keine Namen, sonst wäre die emotionale Bindung zu den Tieren zu stark", sagt der Landwirt.
Jungbulle auf dem Weg in die Tötungsbox
Vom Zuchtbullen abgesehen, ist nämlich die Lebenszeit vor allem der Jungbullen kurz: Sind sie 16 bis 18 Monate alt, kommen sie "zu 99 Prozent in die Schlachtung". Fünf der Jungbullen stehen pro Woche auf Neubergers Hof zur Schlachtung an; gerade geht Jungbulle 82917 seinem Ende entgegen. Trabt das letzte Mal über Stroh, der Weg führt hinaus in die "Tötungsbox". Das Tier ist unaufgeregt, es kennt die Box vom Impfen und trottet hinein. Drinnen erwarten ihn die Betäubung mit dem Bolzenschussgerät und dann der Entbluteschnitt.
Was aus ihm werden wird, kann der Besucher im Verkaufsraum sehen: Rindswurst, Hackfleisch, Roulade, Gulasch, Tafelspitz.
Sorge um Metzgernachwuchs: Wer macht den Beruf in Zukunft?
Aus Neubergers Sicht ist es ein Glück, dass die Familie in Bürgstadt seit langem auf Selbstvermarktung setzt: Das spart Transportkosten. Es ist auch ein Glück, dass der Metzger, der die Rinder zerlegt, Onkel Bruno Neuberger ist. Doch wie der Betrieb weiterläuft, wenn der 56-Jährige in Rente geht? Metzger sind rar in Unterfranken, an der Berufsschule Aschaffenburg etwa lassen sich die Azubis an einer Hand abzählen.

Zur Sorge um den Metzgernachwuchs kommt die Sorge über explodierende Betriebskosten – bei Maschinen und Saatgut etwa sind die Preise in die Höhe geschossen. Im Ärger über die auslaufende Agrardieselsubvention ist sich Neuberger mit vielen anderen bayerischen Landwirten einig: "Waren ja nur 21 Cent pro Liter Diesel. Aber halt ein Betrag, mit dem man rechnen konnte."
Züchter aus Bürgstadt: "Aus Erzeugersicht müsste der Rindfleischpreis um 60 Prozent höher sein"
Auch ein weiteres Problem teilt der Bürgstädter Züchter mit vielen anderen Bauern: Dass die höheren Betriebskosten nicht auf den Verbraucher umlegbar sind. Beispiel Hackfleisch: Fürs Kilo verlangt Neuberger aktuell 12 Euro. "Würde ich einen aus Erzeugersicht fairen Preis kalkulieren, müsste ich ihn um rund 60 Prozent erhöhen. Aber das macht der Kunde nicht mit!"

Neubergers Gewinnspanne wird also kleiner – und an seinem Gewinn hängt eine Großfamilie samt Eltern, Onkel, Bruder, Frau und Kindern. Der Landwirt arbeitet so effizient es geht – bis zur Selbstausbeutung. "Aber irgendwann ist fertig optimiert. Mehr geht nicht."
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