Wenn Alex Bregenzer auf sein Fahrrad steigt und auf seinen Trails am Main oder in den grünen Wäldern im Landkreis Main-Spessart fährt, verfolgt er bloß diesen einen Gedanken: Einmal zu den besten Radsportlern der Welt zu gehören. Ein Ziel, das ihn Tag für Tag motiviert. Und das ihn voll auf sein Training fokussieren lässt. Doch gerade dieses "Dranbleiben" ist dem 24-Jährigen in seinem bisherigen Leben alles andere als leichtgefallen.
Mit sieben Jahren wurde bei Alex Bregenzer ADHS diagnostiziert. Bei der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung handelt es sich um eine psychische Erkrankung, genauer eine funktionelle Störung, bei der die Signalübertragung zwischen Nervenzellen im Gehirn verändert ist. Betroffenen fällt es unter anderem schwer, einen Gedanken zu Ende zu bringen und sich zu konzentrieren. "Es ist wie ein negatives Gedankenkarussell, das sich den ganzen Tag über dreht", schildert der Unterfranke.
Eine Eigenschaft, die ihm vor allem in der Schule Probleme bereitete. "In der Schule war ich immer das Nervkind. Ich war abgestempelt als der Problemschüler", sagt Bregenzer. Auch nach dem Unterricht habe er Schwierigkeiten gehabt, sich zu konzentrieren: "Die Hausaufgaben waren die Hölle." Um mit ADHS besser lernen und leben zu können, hätten seine Eltern ihn nach der Diagnose auf eine Montessori Schule in Würzburg gebracht.
Der Umgang mit der Krankheit fiel auch seiner Mutter schwer. "Viele, die sich nicht damit auseinandersetzen, können sich nicht vorstellen, was es bedeutet, ADHS zu haben", sagt Evi Bregenzer. Die 55-Jährige leitet mit ihrem Mann einen großen handwerklichen Betrieb mit mehreren Filialen und Angestellten im Landkreis Main-Spessart. Ein Vollzeitjob.
Ritalin ist für viele Eltern ein heikles Thema
ADHS sei für viele in der Gesellschaft ein heikles Thema, meint Evi Bregenzer. "Vor allem, wenn es um die Behandlung mit Medikamenten wie Ritalin geht." Wer als arbeitende Mutter sein Kind schon in jungen Jahren mit Medikamenten behandeln lasse, dem werde schnell unterstellt, sich nicht gut genug darum zu kümmern, sagt Bregenzer. "Ich habe im Familien- und Freundeskreis nicht kommuniziert, dass Alex Ritalin nimmt."
Das Ritalin wirkte. Doch die Nebenwirkungen machten Alex Bregenzer immer mehr zu schaffen. "Normalerweise bin ich ein lustiger, offener, manchmal etwas lauter Mensch. Durch das Ritalin war ich auf einmal das komplette Gegenteil", erinnert sich der Zellinger. "Ruhig, introvertiert, aber extrem reizbar." Wenn ein Mitschüler ihn mal ärgerte, sei er ausgeflippt. "Ich hatte mich körperlich teilweise nicht mehr unter Kontrolle."
Wenn am Nachmittag die Wirkung der Tabletten nachließ, habe sich das komplett gedreht: "Es war, als ob ich zwei Persönlichkeiten gehabt hätte." In ihm sei die Angst gewachsen, ohne das Medikament keine Leistung mehr bringen zu können und so in eine Sucht abzurutschen, sagt der 24-Jährige.
Um sich von Schule und Alltag abzulenken, sei er immer öfter Fahrrad gefahren. "Damals habe ich gemerkt, wie viel mir der Sport und die frische Luft bedeuten." Mit anderen Jugendlichen im Radsportverein (RV) Viktoria Wombach habe er sich gepusht, mit 13 Jahren fuhr er bei den ersten Bundesnachwuchsrennen mit. "In meinen Niederlagen und Gewinnen habe ich gemerkt, dass ich mich trotz ADHS auf eine Sache vorbereiten kann – auch ohne Ritalin."
Über die Jahre habe er so gelernt, die Krankheit in den Griff zu bekommen und ein ausgeglichenes Leben zu führen, sagt Bregenzer. Er setzte das Ritalin ab, ging an die Realschule zurück und machte nach seinem Abschluss die Ausbildung zum Mechatroniker.
Sport steigert die Lebensqualität
"Sport hat allgemein einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden und die körperliche und psychische Gesundheit", sagt Julia Geissler, Psychologin am Universitätsklinikum Würzburg. Bewegung helfe dabei, kognitive Leistungen wie das Arbeitsgedächtnis und Sprachfertigkeiten zu verbessern. "Es gibt allerdings keine Belege dafür, dass Sport die Kernsymptome der ADHS in einem klinisch relevanten Ausmaß reduziert", sagt Geissler. Sport sei begleitend gut, ersetzt aber keine therapeutisch-psychiatrische Behandlung der ADHS.
Ob mit oder ohne ADHS - generell gebe es einen positiven Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und Lebensqualität, sagt die Psychologin. Sport führe zu bessere Kondition, stärke die psychische Gesundheit und habe auch soziale Aspekte wie die Teamzugehörigkeit.
"Ich habe durch den Sport gelernt, mich mehr auf mich zu konzentrieren und meine Handlungen zu planen", sagt Bregenzer. Er ist sich sicher, dass Menschen mit ADHS nur etwas finden müssen, worin sie sich "reinfuchsen" können, um darin aufzugehen. "Das ist die beste Therapie für mich gewesen, die einzige Sache, die ich nicht aufschiebe. Ohne ADHS würde ich heute nicht Rad fahren."
Heute ist Bregenzer selbständiger Radsportler. Dafür trainiert der Mountainbike-Profi mehrere Stunden am Tag und legt zwischen 300 und 400 Kilometer in der Woche zurück. Sein Ziel: Beim Worldcup der diesjährigen Mountainbike-WM in Schottland zu den besten fünf Fahrern gehören, die für Deutschland an den Start gehen.
"Ich möchte Kindern mit ADHS durch meine Karriere als Mountainbike-Profi bestärken, dass sie trotz Krankheit dazu imstande sind, Großes zu erreichen und ein erfülltes Leben zu haben", sagt der 24-Jährige. Er selbst habe sich als Jugendlicher gewünscht, von anderen Kindern zu erfahren, wie es ihnen mit der Diagnose geht. Aber es habe keinen Austausch gegeben. "Ich habe mich oft alleine gefühlt mit ADHS." Deshalb hat er die Radsportgruppe "Dreamers Racing" gegründet. Und will andere dazu inspirieren, aufs Rad zu steigen – egal ob mit oder ohne ADHS.