Der Gemündener Richard Sauterleute ist sauer. Der 66-Jährige und seine Frau wohnen im Neuen Weg mit Blick auf die Gleise und müssen Tag und vor allem Nacht mit dem Lärm von lauten Güterzügen leben. Nach seinen Erkenntnissen ist nirgends in Deutschland die Lärmbelastung höher als in Gemünden. Kürzlich hat Gemündens Stadtrat den vor fünf Jahren schon einmal gefassten Beschluss wiederholen müssen, dass die Bahn Lärmschutzwände bauen kann. Die Arbeiten sollen allerdings erst 2026 bis 2028 beginnen, eigentlich hätten die Wände schon dieses Jahr fertig sein sollen. Und erst wenn die stehen, werden Schallschutzfenster gefördert. "Das ist eine ganz bittere Geschichte", findet Sauterleute. Weil derweil andere, weniger belastete Strecken schneller einen Lärmschutz erhalten, glaubt er an "Mauschelei". "Wir sind schlichtweg rausgekickt worden", ist er sich sicher.
Sauterleute hat seine Zahlen schon dem Gemündener Bürgermeister und den örtlichen Abgeordneten übergeben: insgesamt 115.000 Züge im Jahr 2022 zwischen Karlstadt und Gemünden, davon fast 70.000 Güterzüge, da komme keine andere Strecke in Deutschland ran. "Wie kommen Sie denn da drauf?", sei immer die erste Frage. Vergleichszahlen habe keiner gehabt. Nein, er stehe nicht auf seinem Balkon und mache Strichlisten, lacht er, obwohl ihm nicht zu lachen zumute ist. Der Maschinenbauingenieur hat die Zahlen schlicht im Internet gefunden. Seit 2019 besteht etwa eine Messstelle zwischen Karlstadt und Gemünden, die live Ergebnisse liefert. Seines Wissens befindet sie sich in der Nähe der Harrbacher Schleuse. Durch Gemünden führen darüber hinaus noch die Züge über die Werntalbahn und die Richtung Bad Kissingen. Hinzu komme die – etwa im Vergleich zu Karlstadt, das schon bald seine Lärmwände bekommt – ungünstige Tallage der Dreiflüssestadt, durch die nicht nur die unmittelbaren Anwohner unter Bahnlärm zu leiden haben, sondern auch die weiter oben am Hang wie die Sauterleutes.
Wie ein Saurier aus "Jurassic Park" klingt das Stöhnen eines langen Güterzuges hinauf zum Balkon des Ehepaars, hinzu kommt ein Quietschen. "Hören Sie, da läuft ein Rad nicht sauber." Die Achse eines Waggons sei offenbar auch defekt, glaubt Sauterleute zu hören, an einem anderen klemme wohl die Bremse. Geräusche, die nachts manche wachhalten. Laut dem neuesten Schallgutachten beträgt die Lärmbelastung im 1. Obergeschoss der Sauterleutes 65 Dezibel. Ein solcher Schallpegel erhöht laut wissenschaftlichen Studien das Risiko für Herz-Kreislaufstörungen um 20 Prozent. Weil so viele Güterzüge durch Gemünden fahren, wird die Stadt von Zugfans auch als "Güterzugparadies" bezeichnet. Die vielen Weichen rund um den Bahnhof mit seinen 15 Gleisen verursachten obendrein Krach. "Wenn das Fenster auf ist, und es kommt was Interessantes im Fernsehen, kommt bestimmt ein Zug", sagt er. Nachts könne man ohnehin kein Fenster aufmachen.
Bahnlärm sei für den gebürtigen Allgäuer schon seit dem Einzug 1995 ein Thema, aber erst vor etwa eineinhalb Jahren, als bekannt wurde, dass der Sinngrund jetzt Lärmschutzwände erhalte, habe er sich näher damit auseinandergesetzt. Schließlich fahren durch Gemünden mehr Züge. Im Internet stieß er auf die Kriterien für das Lärmsanierungsprogramm der Bahn und dann auch auf Zahlen. Gemünden mit über 60.000 Zügen im Jahr stehe schon seit 2007 auf der Liste der primär zu sanierenden Abschnitte. Warum ist die Stadt trotzdem so spät dran?
Sauterleute glaubt, dass es eine politische Entscheidung war, andere Strecken in Bayern vorzuziehen. Und das stark belastete Gemünden sei dabei eben hinten runtergefallen. "Je tiefer du da einsteigst, desto dicker wird der Hals", sagt der lärmgeplagte 66-Jährige. Ihn ärgert, dass in Karlstadt schon alles vor der Verschärfung der Lärmgrenzen so weit festgezurrt gewesen sei, dass die Lärmschutzwände dort jetzt kommen, in Gemünden aber nicht. Veitshöchheim, Thüngersheim und Retzbach haben schon welche. Er vermutet, dass hier von Würzburg ausgehend stur Ort für Ort geplant werde und nicht nach Dringlichkeit. Er will den hiesigen Politikern nicht einmal Vorwürfe machen, weil sich eben alle, so wie er auch, wohl darauf verlassen hätten, dass alles richtig laufe. Nun müsse Gemünden eben wieder hinten anstehen. Hätte man 2013 schon die Vergleichszahlen zu anderen Strecken gehabt, dann hätte man Gemünden vielleicht nicht so vertröstet, glaubt er.
Für ihn und die weiteren Bewohnerinnen und Bewohner des Neuen Wegs, des Rhönwegs und weiter bis zum Kreuzkloster bringen Lärmschutzwände nach Sauterleutes Erkenntnissen gar nichts. Der Schall gehe darüber einfach hinweg. Aber die Wände müssen eben erst stehen, bevor es eine 75-prozentigen Zuschuss für Schallschutzfenster gibt für alle, die trotz Wänden von Bahnlärm betroffen sind. Geht es nach Richard Sauterleute, müsste politisch darauf hingewirkt werden, dass schalldämmende Maßnahmen an Häusern möglich sein sollten, sobald – wie in Gemünden – Schallgutachten detailliert vorliegen und die Schutzwände durch Planung festgelegt sind.
Bahn: Verkehrsministerium gibt Priorisierung vor
Der Gemündener SPD-Bundestagsabgeordnete Bernd Rützel sagt, er stehe in engem Kontakt mit Sauterleute. "Ich bin froh, dass er sich so reinkniet", so Rützel. Er versichert, dass er und andere seit Jahren am Thema Lärmschutz dran seien, aber manchmal sei man mit seinem Latein am Ende, gerade was die Bahn anbelange. Er habe beispielsweise schon "zig Briefe" wegen des "unfassbaren" Lärms durch eine neue Weiche in Langenprozelten geschrieben, aber niemand fühle sich zuständig. Rützel möchte sich nicht an Spekulationen beteiligen, wie es dazu kam, dass gewisse Strecken priorisiert werden.
Auf Anfrage bei der Deutschen Bahn, warum das stark belastete Gemünden erst so spät Lärmschutzwände bekommt, heißt es von einer Pressesprecherin, die nicht namentlich genannt werden möchte, dass bei der Lärmsanierung für alle Streckenabschnitte eine Priorisierungskennzahl berechnet werde. Die Formel dafür werde vom Bundesverkehrsministerium vorgegeben. Darin fließe die Lärmbelastung und die geschätzte Anzahl der betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner ein. Die Kennzahl gebe an, in welcher Abfolge Strecken bearbeitet werden müssen.
Für Sauterleute liegt da der Hase im Pfeffer. Nicht die am stärksten belasteten Strecken und Orte werden priorisiert, sondern die, wo die meisten Menschen wohnen. Die Strecke Würzburg–Gemünden – die meisten Güterzüge biegen dann in Richtung Sinngrund und nicht Richtung Aschaffenburg ab – hätte eigentlich bereits in der ersten Stufe dran sein müssen, aber dann seien im zweiten Schritt die Zugzahlen, bei denen die Bahn tätig wird, gesenkt worden. So sei das deutschlandweit wohl am stärkten belastete Gemünden aufgrund der geringen Einwohnerzahl wieder nach hinten gerutscht. Beim Straßenverkehr laufe es ähnlich, so der 66-Jährige: Gemünden sei bei der geplanten Umgehung hinter Giebelstadt, wo es indes gerade stockt, gelandet, obwohl es in der Dreiflüssestadt viel mehr Verkehr gebe.
Das liegt schon Jahrzehnte zurück. Vom einstmals großen Rangierbahnhof ist nichts mehr übrig und das Busbahnhofdepot gehört jetzt OVF.