
Gerda Siegler weiß genau, wer an diesem Dienstagmorgen um kurz nach halb acht Uhr noch fehlt: "Wir warten auf drei Mädchen, das sind dann die letzten Kinder für heute." Die 62-Jährige steht an der vielbefahrenen Lohrer Straße in Wiesenfeld, aus Richtung Steinbach rollt ein Lastwagen heran. Dann kommen die drei Mädchen den Gehweg entlang, Siegler – gekleidet in eine neongelbe Jacke mit der Aufschrift "Verkehrshelfer" samt passender Kappe – tritt rechtzeitig vor dem nächsten Fahrzeug auf die Straße, schwenkt die rot-weiße Kelle und leitet die Kinder so sicher zur Grundschule.
Seit 38 Jahren achtet Gerda Siegler nun schon auf die Sicherheit von Schulkindern in Karlstadt-Wiesenfeld. Damit ist sie eine der erfahrensten Schulweghelferinnen im Landkreis Main-Spessart. Gestartet hat die 62-Jährige im Herbst 1985. Ihre beiden Söhne besuchten damals selbst die Grundschule. Generationen von Schülerinnen und Schülern hat Siegler seitdem bei Wind und Wetter begleitet. Alle drei Wochen ist sie von Montag bis Freitag, von 7.15 bis acht Uhr im Einsatz. Selbstverständlich ist das nicht. Vielerorts wird es zunehmend schwieriger, Ehrenamtliche zu gewinnen.
Die Verkehrshelferinnen suchen dringend nach Unterstützung
Im Bereich Marktheidenfeld und Karlstadt sind derzeit etwa 205 Erwachsene als Schulweghelfer und 84 Schülerinnen und Schüler als Lotsen aktiv. In Lohr und Gemünden sind es rund 400 Erwachsene und 25 Jugendliche ab 13 Jahren. Das teilen Stefan Kaiser und Uwe Friedel von den Jugendverkehrsschulen Karlstadt und Lohr auf Anfrage mit. Besonderer Bedarf bestehe derzeit noch in Wiesenfeld, Retzbach und Eußenheim. "In Gemünden werden noch Helfer gesucht, in Seifriedsburg wurde der Dienst sogar komplett eingestellt, weil sich keine Eltern gefunden haben", sagt Friedel.

"Die Aufgabe will niemand mehr machen, wir sind jetzt schon zu wenige", sagt auch Maria Eirich (73), die gemeinsam mit Gerda Siegler in Wiesenfeld aufpasst und seit zehn Jahren dabei ist. Insgesamt 14 Frauen übernehmen derzeit im Wechsel die Dienste an der Sparkasse und der Lohrer Straße – zwei mehr wären allerdings besser. "Ich habe schon viele Rentner im Ort gefragt, aber niemand will es machen. Manche schlafen lieber aus", sagt Eirich achselzuckend. Dabei sei der Zeitaufwand gering. Sie selbst ist durch ihre Enkelkinder zum Ehrenamt gekommen.
Maria Eirich: "Manchmal ist es hier schon gefährlich"
Warum die beiden Frauen schon so lange dabei sind? Sie kennen jedes Kind, das sie über die Straße begleiten. "Den Kontakt zu halten und den Buben und Mädchen beim Aufwachsen zuzusehen, das ist das schöne daran. Und wir wissen deshalb auch immer genau, wer noch fehlt."
Was sich mit den Jahren verändert hat? "Der Verkehr hat zugenommen", sagt Siegler. Sie hat festgestellt, dass am Dienstag besonders viele Lastwagen durch den Ort rollen. Doch nicht jeder Verkehrsteilnehmer sei einsichtig: "Es kam schon vor, dass uns ein Lkw mit Lichthupe signalisiert hat, dass wir auf die Straße können und ein Auto dann von hinten aus der Kolonne überholt hat." Eirich bestätigt: "Manchmal ist es hier schon gefährlich." Das zeige wiederum, wie wichtig ihr Engagement sei.

Ortswechsel: Ein Lastwagen samt Autokolonne bahnt sich seinen Weg an diesem verregneten Morgen durch Eußenheim. Auf eine Lücke im Verkehr muss man lange warten. Zahlreiche Schülerinnen und Schüler der Grund- und Mittelschule warten seit einigen Minuten darauf, die Straße überqueren zu können. Routiniert passt Monika Seufert den richtigen Zeitpunkt ab und bringt die Kinder sicher an ihr Ziel. Die Eußenheimerin ist seit neun Jahren eine von derzeit 13 ehrenamtlichen Verkehrshelferinnen. "Ich habe begonnen, als meine eigenen Kinder noch im Grundschulalter waren und danach einfach weitergemacht", sagt sie.
Derzeit fließt der Umleitungsverkehr durch Eußenheim
Die Argumente mancher Eltern à la "Meine Kinder sind doch schon aus dem Grundschulalter heraus", "Ich kann es mir zeitlich nicht einrichten" oder "meine Kinder müssen die Straße nicht überqueren, deshalb helfe ich nicht" könne sie nicht verstehen, sagt Seufert. "Wir sind hier alle berufstätig und organisieren uns das entsprechend mit einem Jahresplan, das funktioniert gut. Es geht ja nur um eine dreiviertel Stunde." Vier bis fünf Mal pro Jahr ist Monika Seufert so im Einsatz. "Es geht um die Sicherheit der Kinder, da nehme ich mir gerne die Zeit."
In diesem Jahr ist die Situation in Eußenheim besonders brenzlig: Durch die Vollsperrung der B26 bei Gambach fließt der Umleitungsverkehr durch den Ort. Die Polizei war deshalb in der ersten Schulwoche nach den Ferien verstärkt an Brennpunkten im Landkreis präsent. In Eußenheim unterstützt Stefan Kaiser von der Jugendverkehrsschule Karlstadt an diesem Tag mit einer Kollegin die Helferinnen.
Schülerlotsen erhalten einen positiven Vermerk im Zeugnis
In Karlstadt übernehmen laut Kaiser ausschließlich Schülerinnen und Schüler die Lotsenstellen. "Auch durch Corona ist die Einbindung von Schülern leider etwas eingeschlafen, das wollen wir jetzt aber wieder angreifen." An den Schulen sind dann sogenannte Verkehrslehrer für die Einteilung zuständig. "Die Verkehrserzieher der Polizei kümmern sich um die Ausbildung in der siebten Klasse, die Betreuung und sie stellen die Ausrüstung." Eine mögliche Motivation für Jugendliche, sich zu engagieren, könnte ein positiver Vermerk dafür im Zeugnis sein, sagt Kaiser. "Das kann sich später auch gut in einer Bewerbung machen."
8.45 Uhr in Wiesenfeld: Gerda Siegler und Maria Eirich haben alle Kinder sicher über die Straße gebracht. Trotzdem warten sie noch den Schulstart um acht Uhr ab – "falls ein Schüler nochmal zurück muss, weil er etwas vergessen hat, zum Beispiel seinen Turnbeutel", sagt Siegler. "Vorher gehen wir nicht nach Hause."