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Marktheidenfeld
Emigration und ein stetiger Kampf um Respekt: Spätaussiedlerin Olga Merker hat Erfüllung in Arbeit im Kindergarten gefunden
Die 64-jährige Rentnerin aus Marktheidenfeld berichtet von ihrem Weg nach Deutschland und den Herausforderungen, die sie als Spätaussiedlerin und Erzieherin meisterte.
Die Zeiten, in denen Olga Merker aus Marktheidenfeld ständig Kinder um sich herum hatte, sind vorbei. Jetzt ist die 64-Jährige, die ihre Arbeit als Erzieherin als Berufung bezeichnet, Rentnerin.
Foto: Dorothea Fischer | Die Zeiten, in denen Olga Merker aus Marktheidenfeld ständig Kinder um sich herum hatte, sind vorbei. Jetzt ist die 64-Jährige, die ihre Arbeit als Erzieherin als Berufung bezeichnet, Rentnerin.
Dorothea Fischer
 |  aktualisiert: 09.10.2024 02:44 Uhr

Sie habe ein gutes Gedächtnis, sagt Olga Merker. "Ich kenne auch noch die Kinder, die vor 20 Jahren bei uns waren." Und das waren Hunderte. Mehr als 37 Jahre lang arbeitete Merker in Kindergärten, die meiste Zeit in Marktheidenfeld. Seit September ist die 64-Jährige Rentnerin. Der Abschied aus dem Berufsleben sei ihr schwergefallen, sagt sie.

Sie hat nie bereut, dass sie den Beruf der Erzieherin gewählt hat, den sie selbst als Berufung für sich bezeichnet. "Die Kinder standen für mich immer an erster Stelle", sagt sie. Für Merker sei es selbstverständlich, dass die Kinder zweimal am Tag draußen spielen, "egal bei welchem Wetter". Damit seien nicht immer alle Eltern einverstanden gewesen.

Wissensdurst stillen und gleichzeitig Tugenden vermitteln

"Wir sind oft mit dem Bus gefahren, zum Beispiel zum Imker oder zu einem Weingut", erzählt sie. Die Kinder hätten nebenbei gelernt, wie man sich im Straßenverkehr verhält und dass man älteren Menschen den Sitzplatz anbietet. Als 2019 die in die Jahre gekommenen Pavillons der Kita Baumhofstraße abgerissen wurden, war Olga Merker dort bereits 23 Jahre beschäftigt. "Mir hat es unendlich leidgetan. In dem alten Gebäude steckten so viele Erinnerungen." Wider Erwarten hat sie sich dennoch mit dem modernen Gebäude angefreundet.

Merker wertschätzt es, dass das Kita-Personal relativ frei darin ist, was es den Kindern an Wissen vermittelt und wie es auf das Interesse und die Wünsche der Kinder eingeht. Das kennt sie aus ihrem Herkunftsland Kasachstan anders. Dort gab das Regime den Lernplan vor. Wer sich nicht daran gehalten hat, dem wurde gekündigt und der wurde bestraft.

Olga Merker kam 1993 als Aussiedlerin nach Deutschland

Gewollt fühlte sie sich in dem Land, in das ihre Großeltern im 19. Jahrhundert von Baden-Württemberg aus umsiedelten, nicht. So erging es vielen Russlanddeutschen. Nach dem Ende der Sowjetunion emigrierten viele von ihnen aus Angst vor ethnischen Konflikten und wirtschaftlicher Benachteiligung. 1994 reiste auch Olga Merker zusammen mit ihrem Mann und den beiden Töchtern aus. Auch der Großteil ihrer Verwandten und der Menschen ihres kasachstanischen Heimatdorfes kamen als Aussiedler nach Deutschland.

In dem knapp 2000-Einwohner-Dorf, das früher "Neues Leben" hieß, wohnten fast ausschließlich deutsche Bauernfamilien. Dort sprach man mit schwäbischem Dialekt und feierte christliche Kirchenfeste. "Ich hatte eine glückliche Kindheit. Den Schnee im Winter habe ich als Kind geliebt", erinnert sich die 64-Jährige.

Russisch lernen war Pflicht

Erst als sie die Schule besuchte, erfuhr Olga Merker, dass die Welt abseits des Dorfes anders war: ein anderer Glaube, eine andere Kultur, eine andere Sprache. Unterrichtet wurde ausschließlich in Russisch gehalten, der offiziellen Landessprache, die Merker bis dato fremd war.

Sommerfeste, Faschingsfeiern, Gruppenbilder: Zum Abschied schenkten die früheren Kollegen und Kolleginnen der Kita Baumhofstraße Marktheidenfeld Olga Merker Fotos aus ihrer Zeit dort.
Foto: Dorothea Fischer | Sommerfeste, Faschingsfeiern, Gruppenbilder: Zum Abschied schenkten die früheren Kollegen und Kolleginnen der Kita Baumhofstraße Marktheidenfeld Olga Merker Fotos aus ihrer Zeit dort.

Es war nicht selbstverständlich, dass Deutschstämmige eine Ausbildung machen durften, so wie Merker ab 1977. In den Kindergärten arbeiteten ausschließlich Frauen – auch Köchinnen und Krankenschwestern. "Impfungen, Untersuchungen und alles andere Medizinische, was Kinder betraf, wurde im Kindergarten erledigt." Männer wie Frauen arbeiteten in Vollzeit, in ihrer Einrichtung wurden schon acht Wochen alte Kinder aufgenommen. Das Kindergarten-Personal arbeitete in zwei Schichten von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends.

Trotz guten Verdienstes war das Geld knapp

Als ihr Mann, ein Grubenarbeiter, in eine Stadt versetzt wurde, ging sie mit und arbeitete im dazugehörigen Betriebskindergarten. Wenn die betreuten Kinder über Nacht blieben, weil ihre Mütter arbeiteten, oder Samstagsschichten angeordnet wurde, musste auch Merker ihren Dienst antreten – im Schlepptau immer ihre zwischenzeitlich geborenen Töchter.

"Wir waren für die anderen Ausländer, mit uns wollte keiner etwas zu tun haben."
Olga Merker über ihre Zeit als Erwachsene in Kasachstan

Doch obwohl beide Elternteile in Vollzeit arbeiteten, sei das Geld immer knapp gewesen. Die Familie wohnte in einem mehrstöckigen Plattenbau; Wand an Wand mit Unbekannten. "Wir waren für die anderen Ausländer, mit uns wollte keiner etwas zu tun haben." Sie habe das ländliche Leben, die Familie und die Dorfgemeinschaft vermisst. 

Mit nichts als zwei Koffern nach Deutschland gekommen

Doch die gab es so nicht mehr. Viele Russlanddeutsche waren bereits emigriert. Im Februar 1994 stieg auch Familie Merker in ein Flugzeug nach Deutschland. Sie kamen mit nichts als dem Nötigsten, verstaut in zwei Koffern. Es habe sie viel Kraft gekostet, nach einer dauerhaften Bleibe und Arbeit zu suchen, sagt Olga Merker.

Zu Olga Merkers Abschiedsfeier in der Marktheidenfelder Kita Baumhofstraße kamen viele frühere Kollegen und Kolleginnen, Bürgermeister Thomas Stamm, Personalratsvorsitzender Walter Bufe, und Elternbeiratsvertreter zusammen.
Foto: Maria Geeb | Zu Olga Merkers Abschiedsfeier in der Marktheidenfelder Kita Baumhofstraße kamen viele frühere Kollegen und Kolleginnen, Bürgermeister Thomas Stamm, Personalratsvorsitzender Walter Bufe, und Elternbeiratsvertreter ...

"Wir sind nicht gekommen, um dem Staat auf der Tasche zu liegen", sagt sie, "wir wollten arbeiten und eigenes Geld verdienen". Ihr Mann wurde nahe Marktheidenfeld fündig, sie selbst hat ein Jahr lang in der Nachtschicht eines Industriebetriebes angeheuert. Doch das stellte sie nicht zufrieden. Sie wollte wieder ihrer Berufung nachgehen und mit Kindern arbeiten.

Ausbildung zur Erzieherin wurde nicht anerkannt

Das Problem: Ausbildung und Berufserfahrung wurden in Deutschland nicht anerkannt. Obwohl Deutsch ihre Muttersprache war, musste Merker einen Sprachkurs für Anfänger belegen, die Fachschule in Stuttgart selbst finanzieren. Heute ist es auch für sie kaum noch vorstellbar, wie sich die Familie das Geld vom Mund abgespart hatte. Ab 1997 durfte sie als Kinderpflegerin arbeiten, später als Erzieherin.

"In Deutschland hat man die Freiheit, selbst Entscheidungen zu treffen. Mit Willenskraft kann man hier alles schaffen."
Olga Merker hat erlebt, wie es in Kasachstan war

Lange kämpfte Olga Merker gegen Ablehnung, die sie auch in Deutschland spürte. Sie erzählt vom Sachbearbeiter einer Behörde, der sie schikaniert habe, weil sie Ausländerin war. Sie erzählt von früherer Diskriminierung am Arbeitsplatz. "Das Leben forderte viel von mir", sagt sie im Rückblick. Dennoch würde sie jede ihrer Entscheidungen genauso wieder treffen, sagt sie. Sie hege keinen Groll. "Ich profitiere davon, dass ich immer vertrauensvoll auf andere Menschen zugehe."

"In Deutschland hat man die Freiheit, selbst Entscheidungen zu treffen. Mit Willenskraft kann man hier alles schaffen", sagt sie. Merkers Leben war von ihrer Berufung bestimmt. Sie musste lernen loszulassen, als sie 2021 schwer erkrankte. "Nach der Diagnose habe ich mich gefühlt wie ein Versager", sage sie. Aufgefangen habe sie die Anteilnahme, die Nachbarn, Kolleginnen und Eltern der Kita-Kinder ihr entgegenbrachten. Sie genoss es, dass sie nach langer Krankheit die letzten Monate vor der Rente arbeiten durfte, um langsam von ihrem Beruf Abschied zu nehmen.

 
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