Er habe "nicht nichts machen können", hat der Karlstadter Rheumatologe Dr. Igor Turin einmal im Gespräch mit dieser Redaktion gesagt. Und deshalb startete er im März 2022, gleich nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine, eine Hilfsaktion. Zahlreiche Menschen aus der Region wollten ebenfalls etwas tun – und packten mit an oder spendeten. Seitdem sind rund 640.000 Euro und Sachspenden – vor allem medizinische Güter – im Wert von drei bis vier Millionen Euro zusammengekommen. Der 45. Lkw fährt in dieser Woche ins Kriegsgebiet.
Und auch in Arnstein wollten viele Menschen helfen: Der dortige Helferkreis um Cornelia Fuchs, der seit 2015 besteht, nimmt unter anderem Kleider- und Lebensmittelspenden auf. Der Zuspruch sei enorm gewesen, so Fuchs. Um die Waren sicher ins Krisenland zu transportieren, kooperierten die Arnsteiner Helferinnen und Helfer im vergangenen Jahr mit Turin. Mittlerweile haben sie den Transport eigenständig organisiert.
Wie sieht es ein Jahr später aus? Ist die Hilfsbereitschaft nach wie vor groß? Was wurde zu Beginn des Krieges am dringendsten benötigt und was aktuell? Im Interview berichten Fuchs und Turin von aktuellen Herausforderungen. Und sie sagen, welche Schicksale sie besonders berührt haben.
Dr. Igor Turin: Man muss sich wundern, dass die Kampfbereitschaft und Motivation der Ukrainer weiterhin so hoch ist. Es ist, als ob ein neues Land entsteht, beinahe eine neue Supermacht. Wohl jede Familie kennt jemanden, der gestorben ist. Es gibt Kinder, die nicht wissen, ob ihre Eltern leben oder nicht. Die Varianten an Leid sind so mannigfaltig.
Turin: Relativ zu Beginn des Krieges habe ich in Deutschland eine Frau aus Mariupol kennengelernt. Sie kam mit drei Kindern zu mir. Im Gespräch hat sich herausgestellt, dass sie nicht wusste, wie zwei der drei Kinder heißen. Es waren nicht ihre eigenen und sie redeten seit Wochen nicht. Die Frau sagte: "Die Kinder standen einsam herum, dann habe ich sie zusammen mit meinem eigenen Kind mitgenommen."
Turin: Niemand von uns hat zu Beginn Erfahrung damit gehabt, was man in einem solchen Fall braucht. So einen Krieg gab es das letzte Mal vor drei Generationen. Für mich war klar, dass Gesundheit und Ernährung an erster Stelle stehen. Ich habe dann Kollegen in der Ukraine, die ich kannte, meine Hilfe angeboten. Wir wollten vor allem für Medikamente und medizinische Ausrüstung Spendengelder sammeln und die Güter im Krisengebiet gezielt zur Verfügung stellen.
Turin: Uns war klar, dass man für die Güter eine Sammelstelle braucht und eine Struktur, um das Ganze relativ schnell publik zu machen. Rudi Gosdschan, der nach wie vor zum Kernteam gehört, hat den Kontakt zu Thomas Gundersdorf hergestellt, der uns seitdem die Halle im Karlstadter Gewerbegebiet unentgeltlich zur Verfügung stellt. Da hatten wir sehr viel Glück. Die umliegenden Firmen unterstützen uns ebenfalls, beispielsweise mit Gabelstaplern. Ohne diese Hilfe kämen wir nicht weiter.
Turin: Sehr schnell konnte ich Kontakt zum ukrainischen Generalkonsulat in Frankfurt herstellen. Der Generalkonsul hat uns an Firmen vermittelt, mit denen wir unsere Hilfsgüter unentgeltlich an die polnische Grenze transportieren konnten. Einige haben auf dem Rückweg sogar Flüchtlinge mitgebracht. Das ist existenziell, sonst würde nichts laufen. Denn gerade der Transport ist sehr teuer. Dieses Geld wollen wir anstatt in teuren Diesel aber in medizinische Güter investieren. Sehr viele Unternehmer aus der Region haben uns ihre Hilfe unentgeltlich angeboten, bis an die ukrainische Grenze zu fahren, die wir dankend angenommen haben. Ebenso haben sie einige Spender gefunden, die die Transportkosten übernommen haben.
Turin: Das Netzwerk ist sehr konkret, wir haben Kontakt zu Krankenhäusern, vor allem in Frontnähe. Diese versorgen Zivilisten und Militärangehörige, wir statten die Einrichtungen mit Medikamenten und Verbrauchsmaterialien aus. Zum Beispiel in und um Bachmut, einer Stadt von der Größe Schweinfurts: dort befinden sich immer noch tausende Menschen. An der Front machen immer wieder neue Krankenhäuser auf, weil der Bedarf sehr groß ist. Auch hier helfen wir, wo wir können.
Turin: Ja, aber darum geht es nicht. Das ist die Grundlage für alles. Das größte Problem ist derzeit, dass die finanziellen Mittel gegen Null gehen. Wir sind mit Organisationen aus den USA und ganz Deutschland vernetzt, die unter anderem über uns Güter in die Ukraine liefern. Das klingt jetzt alles toll, eigentlich ist es aber eine Katastrophe. Wir haben Strukturen geschaffen, die funktionieren. Die müssen wir aber auch mit finanziellen Mitteln, mit Spenden, füttern. Sonst können wir nur wenig und nicht mehr so effektiv helfen.
Cornelia Fuchs: Wir haben mit einer Sammelstelle in unserer alten Kleiderkammer im ehemaligen Krankenhaus in Arnstein begonnen. Da sind wir aber schon nach einer Woche platzmäßig an unsere Grenzen gestoßen. Der Bürgermeister hat uns dann den leerstehenden Lebensmittel- und Getränkemarkt organisiert. Hier können wir bis heute kostenlos und gut arbeiten.
Fuchs: Am Anfang haben wir vor allem Kleidung gesammelt. Sowohl für die Erstausstattung der hier ankommenden Flüchtlinge als auch für die Menschen in der Ukraine. Im März waren das etwa warme Jacken. Eine große Unterstützung war und ist dabei das Unternehmen s.Oliver. Ohne diese Hilfe wäre das Ganze für uns nicht machbar. Kartons spenden uns Arnsteiner Firmen. Hier musste ich noch nie etwas kaufen, das wäre sonst ein sehr großer Kostenfaktor. Nachdem die geflüchteten Ukrainer ausgestattet waren und einen Aufenthaltstitel erhalten haben, haben wir aus der Kleiderkammer einen Second-Hand-Laden gemacht. Der ist offen für alle Menschen und derzeit unser Standbein, weil die Spenden nachgelassen haben.
Fuchs: Die setzen wir eins zu eins in Lebensmittel um, die in die Ukraine gehen. Deshalb waren wir bei den Transporten bisher auf die Hilfe aus Karlstadt angewiesen. Wir haben schon Lebensmittel für fast 100.000 Euro geschickt. Dazu kommen gespendete Lebensmittel, Medikamente, Verbandsmaterial oder sehr teure Sondennahrung im Wert von insgesamt 50.000 bis 70.000 Euro. Mich hat vor kurzem jemand gefragt, wie lange ich noch helfen will. Aufhören ist für mich keine Option, der Krieg ist ja auch nicht vorbei. Die Hilfe wird sogar immer nötiger, weil das Leid immer größer wird.
Turin: Wir brauchen Ports für Dauerintensivpatienten oder Material, um Knochenbrüche zu versorgen. Diese Sets werden individuell angepasst. Die Krankenhäuser in der Ukraine melden solche Ausfälle an eine Behörde. Die muss dann eine Lösung bieten. Wenn das nicht schnell möglich ist, kann das Krankenhaus uns als Lösung vorschlagen. Unsere Hilfe funktioniert also nicht auf Zuruf, sondern ist genau geregelt. Wir verfahren vor Ort auf offizieller Ebene. So wird sichergestellt, dass genau die Güter geliefert werden, die gebraucht werden. Und auch ankommen. Das wird von den Behörden überwacht.
Turin: Wenn ein Arzt einen Euro in der Tasche hätte und bei einem Schwerverletzten nur eine medizinische Untersuchung durchführen könnte, dann würde er – so wie wohl jeder Arzt auf der Welt – sagen: Ich bestimme den Hb-Wert. Ist er zu niedrig, so besteht unter Umständen eine Verblutungsgefahr. Dieses Gerät kostet neu 5000 bis 6000 Euro – damit sind 100 Tests pro Stunde möglich. Es gibt bei uns entsprechende Strukturen, um dafür das nötige Personal und die Verbrauchsmaterialien vor Ort zu organisieren.
Beim Arnsteiner Frühlingsmarkt am Sonntag, 19. März, hat auch der Second-Hand-Laden in der Neugasse 11 geöffnet.