Wenn Tetiana Rudenko über die Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine berichtet, schluckt sie ihre Tränen hinunter, spricht gefasst. Zu wichtig ist ihr die Botschaft, die sie im Karlstadter Hotel Mainpromenade ihren Zuhörerinnen und Zuhörern an diesem Abend vermitteln will. "Wir leben nicht erst seit vier Monaten im Krieg, sondern seit der Annexion der Krim und des Donbass – also seit acht Jahren und 130 Tagen." Trotzdem habe sich das Leben aller Ukrainerinnen und Ukrainer am 24. Februar, dem Tag der russischen Invasion, noch einmal radikal geändert.
Rudenko engagiert sich in der Ukraine für einen wohltätigen Verein, der unter anderem Prothesen für verwundete Soldatinnen und Soldaten organisiert hat – hergestellt aus europaweit gesammelten und recycelten Verschlüssen von Plastikflaschen. Mit einer kleinen Delegation ist sie nach Main-Spessart gekommen, um sich bei den Verantwortlichen der Karlstadter Aktion "Hilfe für die Ukraine" zu bedanken. Die drei Frauen besuchen außerdem Initiativen in Verona, Barcelona, Nizza, Stuttgart und Warschau.
Tetiana Rudenko: "Wir haben eigentlich keine Zeit zu weinen"
Die Ukrainerinnen zeigen dramatische Fotos und Videos aus ihrer Heimat. Von zerbombten Städten, Menschen, die alles verloren haben – und Soldaten, denen durch die Aktion aus Karlstadt geholfen werden konnte. "Ohne euch würden wir das nicht durchstehen", sagt Rudenko. Dabei kommen ihr dann doch die Tränen. "Wir haben eigentlich keine Zeit, um zu weinen. Das sind Tränen der Dankbarkeit. Ich bin dankbar bis zu meinen letzten Tränen."
Der Karlstadter Arzt Dr. Igor Turin übersetzt Rudenkos Worte für die bewegten Zuhörerinnen und Zuhörer ins Deutsche. Er hat die Hilfsaktion Anfang März initiiert, der Lions Club Mittelmain-Karlstadt und viele weitere Ehrenamtliche unterstützen ihn dabei. Turin hat sich ein großes Netzwerk in Deutschland, der Ukraine und der ganzen Welt aufgebaut, er hält Kontakt zu Ärzten, Regional- und Militärverwaltungen, Vereinen und Journalisten in der Kampfzone. 25 große Lkw und einige Kleinbusse mit Hilfsgütern konnten so bereits von Karlstadt in die Ukraine geliefert werden.
Sauerstoffmasken, Narkosegeräte und 15.000 Unterhosen für die Armee
Dass er sich für die Menschen in der Ukraine engagiert, viel Zeit und Energie dafür aufwendet, ist für Igor Turin selbstverständlich. Nach dem Angriff Russlands habe er sich gedacht: "Ich kann nicht nichts machen" – und einfach losgelegt. Über die Sozialen Medien habe sich die Aktion schnell verbreitet, zahlreiche Menschen hätten sich gleich darauf gemeldet und die Ehrenamtlichen mit Sach- und Geldspenden regelrecht überrannt – oder sonstige Hilfe angeboten.
"Allein in der Region Main-Spessart und Würzburg wurden bisher 470.000 Euro gespendet", sagt Turin. Hinzu kämen gezielt eingesetzte Gelder von Vereinen aus aller Welt und gespendete Hilfsgüter, zum Beispiel Narkosegeräte von der Missioklinik in Würzburg oder Matratzen aus den Krankenhäusern in Erlangen und Nürnberg. Auch andere Hilfsprojekte, zum Beispiel aus Japan und den USA, schicken ihre Güter mittlerweile über Karlstadt in das Krisengebiet oder fragen Turin bei Bestellungen um Rat.
Heute ist die Lagerhalle der Firma Untha in Karlstadt eine Art Drehkreuz für Dinge, die in der Ukraine dringend gebraucht werden. Die Ehrenamtlichen sammeln dort seit Monaten Sachspenden oder kaufen mit Spendengeldern gezielt Sauerstoffmasken, voll ausgestattete OP-Sets, Infusionspumpen oder Medikamente. "Wir haben aber zum Beispiel auch 15.000 Unterhosen für die Armee besorgt – oder über 10.000 Leichensäcke", erzählt Turin. Insgesamt seien bereits Hilfsgüter im Wert von über einer Million Euro von Karlstadt in die Ukraine geliefert worden.
Zum Kernteam gehören Rudi Gosdschan, Ralph Eisermann, Daniel Hamaly, Thomas Gundersdorf, Christoph Gundersdorf, Cüneyt Ünaydin, Cornelia Fuchs, die die Spendensammelstelle in Arnstein organisiert, und Anja Baier. "Jeder Helfer hier ist ein wichtiger Teil des Ganzen, ohne den es nicht funktionieren würde", sagt Turin.
Die Hilfe komme sowohl den ukrainischen Soldatinnen und Soldaten an der Front zugute als auch der Zivilbevölkerung in Regionen, die schwer zugänglich sind. Turin steht in Kontakt mit Koordinatoren vor Ort, die sich mit den Kommandeuren in den umkämpften Gebieten austauschen. "Das Militär übernimmt dann die Verteilung der Hilfsgüter", sagt Turin. Gemeinsam mit Engagierten aus Tschechien, Israel und der Ukraine werde derzeit zudem der Rettungsdienst, der Kranke aus den umkämpften Regionen evakuiert, mit Fahrern und medizinischen Geräten ausgestattet.
Turin organisiert mit einem Ärzteteam Rettungskräfte-Ausbildung per Videoschulung
"In diesen Tagen haben wir einen Jeep aus dem Sauerland nach Lemberg vermittelt – dieser wird dann in Kiew zum Rettungsfahrzeug umgerüstet." Ein weiteres Projekt: Die Kliniken in Chmelnizki, einer Stadt in der Westukraine, werden mit dringend gesuchten Krankenbetten beliefert. 770 werden benötigt, 245 konnten bereits – mit Hilfe eines Vereins aus den USA – von Berlin in die Ukraine transportiert werden. "Für weitere 82 Betten suchen wir gerade noch zwei Lkw", sagt Turin.
Der Rheumatologe koordiniert aber nicht nur die Hilfsgütertransporte: Er hilft gemeinsam mit einem Ärzteteam auch bei der Ausbildung von ukrainischen Rettungskräften per Videoschulung. Die gelieferte Technik muss schließlich auch bedient werden können.
Versorgung der Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser wird immer schwieriger
Was aktuell im Kriegsgebiet dringend gebraucht wird? "Unter anderem Medikamente", sagt Turin. "Sehr häufig werden Beruhigungsmittel nachgefragt." Außerdem sei die Ausstattung des Rettungsdienstes für die normale Bevölkerung wichtig, so Tetiana Rudenko. "Wir brauchen nicht nur Paracetamol, sondern auch Mittel gegen chemische Angriffe." Und auch die Versorgung der Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser werde immer schwieriger. "Wir brauchen Anlagen, um das verschmutzte Wasser aufzubereiten." Hier sicherte Armin Kraus, Präsident des Lions Club, Unterstützung zu.
Nach den eindringlichen Schilderungen sollen die Zuhörerinnen und Zuhörer im Hotel Mainpromenade noch eine Ukraine-Flagge beschriften. "Mit Wünschen für die Ukraine", sagt Rudenko. Neben "Freiheit" hat jemand darauf geschrieben: "Frieden zwischen der Ukraine und Russland".