Eine Idee, deren Zeit gekommen ist, lässt sich nicht aufhalten. Wenn Reinhold Möller über die Zukunft der Arbeit spricht, zitiert er gerne den französischen Schriftstelle Victor Hugo, dem dieser Satz zugeschrieben wird. Die Idee, von der Möller glaubt, dass sie die Pandemie überdauern wird, ist das Arbeiten im Homeoffice. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und plädiert für Telegemeinschaftsbüros.
Der heute 83 Jahre alte Möller war von 1984 bis 2002 Bürgermeister von Retzstadt. Schon in dieser Zeit hatte er die Telearbeit, wie man damals das Homeoffice nannte, propagiert. Retzstadt entwickelte sich zu einem Vorzeigedorf in Sachen Digitalisierung. Das "Teledorf Retzstadt" mit den von ihm entwickelten Telegemeinschaftsbüros war eines der Projekte, mit dem sich der Freistaat sogar an der Weltausstellung EXPO 2000 in Hannover beteiligte.
Möller: "Gewaltiger volkswirtschaftlicher Nutzen"
Letztlich ist das Projekt gescheitert. "Oder man hat es scheitern lassen", meint Möller rückblickend. Aber so wie das ist mit einer guten Idee: Sie lässt sich nicht aufhalten. Dass es dazu die Pandemie gebraucht hat, die dem Homeoffice einen deutlichen Schub gab, bedauert er. Aber wenn es der Sache nützt, könne ja auch etwas Gutes daraus werden.
Viele Firmen erleben derzeit das Arbeiten im Homeoffice als Vorteil für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Es kann funktionieren, wenn nicht gerade das Kind quengelt, weil der Kindergarten geschlossen ist, oder der Schüler Hilfe bei den Mathe-Hausaufgaben braucht, weil das Home-Schooling nicht funktioniert.
Aber Corona wird gehen, das Arbeiten im Homeoffice wird bleiben. Daher geht es Reinhold Möller um ein Konzept nach der Pandemie. "Der volkswirtschaftliche Nutzen des Arbeitens im Homeoffice ist gewaltig", sagt er. Er sieht darin eine große Chance, die dörflichen Strukturen zu revitalisieren. Allerdings sollte man nicht auf halbem Wege stehenbleiben.
Er empfiehlt die Einrichtung von Telegemeinschaftsbüros, wie es sie schon in den 90er Jahren als Versuch in Retzstadt gegeben hat. Das sind Büro-Arbeitsplätze in einem Gebäude, die von Arbeitnehmern aus verschiedenen Branchen belegt sind. Die Infrastruktur eines Büros mit Drucker, digitaler Technik und auch Gemeinschaftsraum kann gemeinsam genutzt werden. Damit wird dem Argument entgegengewirkt, dass der Mensch durch Telearbeit oder Homeoffice vereinsamt.
Reinhold Möller erlebte als Bürgermeister die massive Abwanderung von Arbeitskräften aus Retzstadt. Die zunehmende Mobilität förderte diese Entwicklung. Zugleich gab es Verbesserungen im Kommunikationsnetz. ISDN war in den 90er Jahren der Stand der Technik. Damit war schon die Übertragung von Texten, Sprache und bewegten Bildern möglich, sodass es Überlegungen gab, die pendelnden Retzstadter könnten ihre Arbeiten genauso gut im heimatlichen Umfeld verrichten.
Die zunehmende Digitalisierung – damals hieß es noch Telematik – eröffnete neue Möglichkeiten. In Retzstadt bot sich Mitte der 90er Jahre das leerstehende Rathaus an, in dem sechs Telearbeitsplätze entstanden. Diese waren mit Mitarbeitern aus verschiedenen Branchen gut besetzt. Als das gut lief, wurde eine leerstehende Jugendherberge in der Gemeinde gekauft, in der weitere 30 Arbeitsplätze eingerichtet werden sollten, von denen in der Hochzeit immerhin die Hälfte belegt waren.
Teledorf Retzstadt auf der EXPO
Mit diesem Konzept war Retzstadt das erste Projekt dieser Art in Bayern und wurde daher vom Landwirtschaftsministerium zur Teilnahme an der EXPO 2000 vorgeschlagen. Rückblickend sagt Möller, dass dies aus seiner Sicht allerdings der Anfang vom Ende für das Projekt gewesen sei. Denn um an der EXPO teilzunehmen, wurde vom Freistaat verlangt, sich mit weiteren Partnern zusammenzuschließen. So wurde der Landkreis Main-Spessart ins Boot geholt, der dann das Sagen in der GmbH hatte. Aus Sicht von Möller habe der Landkreis aber kein wirkliches Interesse daran gezeigt. Das Projekt sei verkümmert, bis es aufgelöst wurde.
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Möller ist überzeugt, dass die Telegemeinschaftsbüros ein wichtiger Baustein für die Zukunft der Arbeit sein können. Der volkswirtschaftliche Nutzen sei gewaltig. Er hat alle Vor- und Nachteile bilanziert. Ein Arbeitnehmer spart beispielsweise viel Geld bei den Fahrtkosten. Er hat dies am Beispiel einer Fahrtstrecke von Retzstadt nach Würzburg errechnet.
Bei einem Mischkostensatz aus Treibstoff, Abschreibung und Wartung von 39 Cent pro Kilometer und einer Fahrtstrecke von 40 Kilometern bei 220 Arbeitstagen würden sich über 3400 Euro im Jahr errechnen. Umgerechnet auf ganz Deutschland seien dies bei zehn Millionen Pendlern, die theoretisch im Homeoffice arbeiten können, 34 Milliarden Euro. Hinzu kommt die gesparte Zeit, deren Wert sich finanziell nur schwer beziffern lasse.
Kein Pendlerstress
Es gebe viele weitere positive Auswirkungen. Für die Kfz-Versicherungen verringert sich das Unfallrisiko, es gebe keinen Pendlerstress, der Wohnungsmarkt in den Ballungsräumen werde entlastet, da sich Unternehmen von teuren Büroflächen trennen können. Dies sei schon jetzt festzustellen, so Möller. Untersuchungen hätten ergeben, dass derzeit die Mieten für Büros in den Großstädten sinken. In den Ballungsräumen werden die Parkflächen entlastet.
Möller sieht aber auch positive Auswirkungen auf den Wohnort der Beschäftigten. Die Kaufkraft wandere nicht ab, während bislang die Pendler auf dem Weg zum Arbeitsplatz ihre Einkäufe tätigen. Dörfer, die häufig durch die Abwesenheit der Auspendler weitgehend nur noch Schlafdörfer waren, erfahren durch die Menschen wieder eine stärkere Belebung. Verkehrswege werden nennenswert entlastet und in Zeiten des Klimawandels werde der Kohlendioxid-Ausstoß durch Abgase verringert. Möller schätzt die jährlichen gesamtwirtschaftlichen Einsparungen eines allein fahrenden Pendlers auf jährlich 20 000 Euro.
Es gibt natürlich auch Bedenken, gibt Möller zu. Homeoffice verlange eine größere Eigenverantwortung des Arbeitnehmers, denn seine Arbeitsleistung ließe sich schwerer kontrollieren. Aber, meint Möller, in der heutigen Arbeitswelt müsse sich jeder Beschäftigte an seinen Ergebnissen messen lassen. Das gilt auch für die Arbeiter im Homeoffice.
Zum Gespräch in die Zentrale
Ein weiteres Argument gegen Homeoffice hält Möller für relevant, aber auch für entkräftbar. Der persönliche Kontakt zu Kollegen der eigenen Firma könne verkümmere oder ginge verloren. Bei manchen Entscheidungen sei es nun mal wichtig, dass man sich gegenüber sitzt. Aber, so sagt er, es sei schon jetzt möglich, sich seinen Kollegen lebensgroß auf einer weißen Wand ins Büro zu holen und sich mit ihm auszutauschen. Und sollte dennoch ein persönliches Gespräch nötig sein, sei es ja nicht verboten, sich in der Zentrale zu treffen.
Damit es zu keiner Vereinsamung der Arbeitnehmer kommt, sieht Möller die Zukunft in Telegemeinschaftsbüros. Diese werden kommen; davon ist Möller überzeugt. Wie sagte schon Victor Hugo: "Eine starke Idee lässt sich nicht aufhalten."