Von der Straße aus kann man es einige Meter über die Hecke ragen sehen. Umgeben von Bäumen, Büschen und einem großzügigen Vorgarten steht das Kaffeemühlenhaus am alten Güterbahnhof in der Wernfelder Straße in Gemünden. Aufgrund seiner Lage gibt es kaum jemanden im Ort, der das Haus nicht kennt. Zwischen Shell-Tankstelle und Steinmetz steht es einfach so da – als wäre nichts gewesen.
Dass es aber an ein Wunder grenzt, dass das Haus nach zwei Weltkriegen und vielen Interessenkonflikten überhaupt noch existiert, weiß wohl niemand so genau wie Christine Iff-Raab. Seit einem Jahr bewohnt sie das Haus mit ihrem Mann Armin. Erstmals dort eingezogen ist sie vor knapp siebzig Jahren.
Vier Kaffeemühlenhäuser von Bahnarbeitern bewohnt
"Im Jahr 1954 war ich ein halbes Jahr alt, als meine Familie hierher kam. Das industrielle Zeitalter löste gerade die Landwirtschaft ab und die Eisenbahn kam in die bitterarme Spessartregion", beginnt Iff-Raab zu erzählen. Ihre Eltern waren Sudetendeutsche, der Vater bei der Bahn angestellt. Im Bereich des alten Güterbahnhofs waren in den 1880-er Jahren vier Kaffeemühlenhäuser für die Bahnarbeiter und deren Familien gebaut worden. Ihren Namen bekamen sie durch die rechteckige Form, die entfernt an eine alte Kaffeemühle erinnert. Zum ersten Mal bewohnt wurden die Häuser 1889. Heute sind nur zwei von vier übrig geblieben.
In den vier Wohnhäusern wohnten zu Beginn jeweils vier Parteien. Die Gebäude bildeten ein optisch stimmiges Ensemble, hatten Etagenklos und ein gemeinsames Waschhaus. Iff-Raab lebte ab 1954 mit ihrem Bruder, ihren Eltern und ihrer Oma im ersten Stock auf gerade mal 30 Quadratmetern. Inzwischen ist sie die letzte lebende Zeitzeugin der früheren Familienwohnung. "Mein Bruder und ich mussten durch das Schlafzimmer der Eltern in unser Zimmer gehen, die Oma hat im Vorzimmer gewohnt", erklärt Iff-Raab und legt einen leicht vergilbten Mietvertag auf den Tisch. Er zeugt von einer überschaubaren Monatsmiete von 17 D-Mark und 96 Pfennig.
Zu fünft auf 30 Quadratmetern gelebt
Sechs Jahre nach dem Einzug, 1960, konnte die Familie sich räumlich vergrößern, als die Wohnung gegenüber frei wurde. "Es war absehbar, dass andere Familien in den Häusern mit der Zeit in größere und attraktivere Wohnungen ziehen würden", sagt Iff-Raab. 1979, weitere neunzehn Jahre später, waren auch die beiden Parteien im Erdgeschoss ausgezogen und die Familie hatte das gesamte Kaffeemühlenhaus für sich allein.
Als Iff-Raabs Familie Mitte des 20. Jahrhunderts nach Gemünden kam, sollte den Arbeitern etwas geboten werden. "Es gab eine Brücke, die über die Gleise zum Main geführt hat. Dort war eine Kantine, mehrere Gärten mit Gartenlauben und ein Rundlokschuppen", erinnert Iff-Raab sich. Den damaligen Glanz der industriellen Aufbruchstimmung sucht man auf dem Areal heute vergeblich.
Zwei Kaffeemühlenhäuser wurden einfach abgerissen
Im Jahr 1985 kauften die Eltern der Bahn das Haus schließlich ab. "Der Kauf war für sie das Symbol für gelungene Integration, für Heimat und Versöhnung mit dem Schicksal", wie Iff-Raab es beschreibt. Schon 1992 kam das erste Angebot, Ihnen das Haus wieder abzukaufen, da das gesamte Ensemble der vier Häuser der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt im Weg stehen würde. Iff-Raabs Mutter stellte klar, sich "nicht auf ihre alten Tage raussetzen zu lassen" und lehnte die Immobilien-Tauschangebote vehement ab. Die zwei benachbarten Kaffeemühlenhäuser waren trotz Denkmalschutz schon abgerissen worden und sollten durch Tankstellen ersetzt werden.
Christine Iff-Raab lebte inzwischen in Berlin, zu klein war die Wohnung für die damals junge Frau geworden. Aus der Ferne wurde ihr bewusst, dass die ehemals klug konzipierte Wohnanlage ihres Elternhauses zu einer "hässlichen Industriebrache" verkommen war. Nicht allein waren zwei der vier Häuser platt gemacht worden. Auch die Brücke zum Fluss war abgerissen, Waschraum, Kantine und Dampfloks . . . alles verschwunden. "Das Haus, eingeklemmt zwischen Bahngleisen und Hauptverkehrsstraße, stand plötzlich am falschen Platz", stellte sie fest.
Rückkehr in die Stadt ihrer Kindheit
Die Liebe ihrer Mutter zum Kaffeemühlenhaus und seiner Umgebung aber war ungebrochen. Nach dem Tod des Vaters 1992 zwang die zunehmende Altersdemenz ihrer Mutter Iff-Raab zu Beginn der Jahrtausendwende, wieder in in die Stadt ihrer Kindheit zu ziehen. Gemeinsam mit ihrem Mann, den sie während ihrer Zeit in Berlin kennengelernt hatte, ging es 2001 nach Hohenroth, wo die beiden Hauseltern der dortigen SOS-Dorfgemeinschaft wurden. Iff-Raabs Bruder war nach dem Tod des Vaters der neue Besitzer des Hauses geworden. Sie selbst ahnte noch nicht, dass das Haus sie nach und nach immer stärker an sich binden würde.
Die Mutter musste 2010 in eine Pflegeeinrichtung ziehen. Sowohl 2013 als auch 2015 häuften sich die Verhandlungen und Angebote rund um das Haus. "Mein Bruder hat sie im Endeffekt alle abgelehnt, er war ein loyaler Sohn", sagt Iff-Raab. Bereits 2016 wurde sie aus dem Nichts zur neuen Besitzerin des Hauses. Die Mutter und der Bruder starben im Abstand von nur vierzehn Tagen.
Iff-Raab musste ungeliebtes Erbe annehmen
Die damals 62-Jährige erbte ein Haus, mit dem sie schon lange auf Kriegsfuß stand. "Die Angebote, die ich in dieser Zeit dafür bekam, machten es mir leicht, mein ungeliebtes Erbe anzunehmen", erzählt Iff-Raab, die das Haus eine Zeit lang auch vermietete. Das erwies sich jedoch nicht als langfristige Lösung, da viele Reparaturen gleichzeitig erforderlich waren. "Wasser im Keller, undichte Fenster, kaputte Fußböden und elektrische Anlagen waren nur der Anfang einer nicht enden wollenden Liste."
Das Telefon klingelte wieder 2019. Erneut ging es um die Umgestaltung des Bahnhofsviertels. Schon vor zehn Jahren gab es in der Ladestraße am Güterbahnhof erste Überlegungen, einen Supermarkt zu bauen. Aktuelle lokalpolitische Überlegungen sehen vor, sämtliche Gebäude auf dem Areal mit Ausnahme des alten Güterbahnhofs und des Kaffeemühlenhauses abzureißen. Das Haus stand im Zentrum vieler Interessen und Iff-Raab war bereit, zu verkaufen. Beim Ortstermin 2020 kamen Grundstückseigentümer, Investoren, Vertreter der Stadt und des Denkmalschutzes zusammen. Bis auf Letztere verfolgten alle das Ziel, das Haus abzureißen. Dann aber, nachdem zwei baugleiche Häuser nebenan längst abgerissen worden waren, spielte der Denkmalschutz die Karte des schützenswerten Ensembles aus.
Erst verhinderte Familie den Abriss, später der Denkmalschutz
"Sie haben sehenden Auges ein Denkmal gekauft. Jetzt sind Sie verpflichtet, es als solches zu erhalten", hieß es dann vonseiten des Denkmalschutzes. Iff-Raab musste ihr Schicksal annehmen. Nachdem etliche Male ihre Mutter und später der Bruder dem Verkauf des Hauses verweigert haben, stellte sich schließlich der Denkmalschutz in den Weg. Das Kaffeemühlenhaus sollte nochmal mit einem blauen Auge davonkommen und weiterhin Teil ihres Lebens bleiben.
"Also hieß es für meinen Mann und mich die letzten Jahre: Renovieren und erhalten", sagt Iff-Raab. Eine sonderbare Vorstellung, wenn man bedenkt, dass in Gemündener Ausschusssitzungen eine gewerbliche Nutzung des Areals im Fokus steht. Doch Supermärkte hin oder her – das Kaffeemühlenhaus hatte sich längst zum historischen Fels in der lokalpolitischen Brandung entwickelt.
Im renovierten Haus auf die Zielgerade des Lebens
"Ich habe das Gefühl, das Haus hatte lange einen eigenen Plan, der komplett an unserem vorbei ging", meint Iff-Raab. Über die vergangenen Jahre setzte sie mit ihrem Mann das Haus in Stand und zog im November 2022 schließlich selbst ein. Für Armin Iff war es eine Premiere, für seine Frau eine Zeitreise in die Vergangenheit.
Heute sind die beiden der Meinung, ihr Planungsziel erreicht zu haben. "Es ist gut geworden, auch wenn es noch viel zu tun gibt. Das Haus ist nicht mehr marode und kaputt, sondern heil und lebendig", freut sich Iff. Dem Ehepaar ist bewusst, dass es schönere Wohnlagen gibt. Da sich Iff-Raab aber auf der Zielgeraden des Lebens angekommen sieht, kann sie auch damit ihren Frieden schließen. "Ich denke, dass für uns heute ein ruhiges Haus im Grünen sogar eine schlechtere Wahl sein kann als ein Haus mit Anschluss an öffentliche Verkehrsmittel und Einkaufsmöglichkeiten."