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Würzburg
Bayern zahlt Gehörlosen weiter keinen Nachteilsausgleich: Was einen Betroffenen daran ärgert
Im Gegensatz zu stark sehbehinderten Menschen bekommen Gehörlose in Bayern keinen Nachteilsausgleich. Ein Betroffener aus Kitzingen sagt, wozu er dieses Geld dringend bräuchte.
Can Sipahi aus Kitzingen engagiert sich seit Jahren in der Sozialpolitik für gehörlose Menschen.
Foto: GMU | Can Sipahi aus Kitzingen engagiert sich seit Jahren in der Sozialpolitik für gehörlose Menschen.
Folker Quack
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:16 Uhr

Can Sipahi ist von Geburt an taub. Seine Eltern zogen als Gastarbeiter 1957 aus der Türkei in die Nähe von Freiburg. 1968 wurde Sipahi geboren. Als er 15 Jahre alt war, gingen seine Eltern zurück in die Türkei. Er aber - in Deutschland geboren und aufgewachsen - wollte in seiner Heimat bleiben. So zog er zu seiner Tante nach Kitzingen, wo er sich mit einem Geschäft für Schmuck und Wohnambiente selbstständig machte. Daneben engagiert er sich für die Belange der Gehörlosen. Denn es mache ihn traurig, wie sehr diese Menschen noch immer am Rand unserer Gesellschaft stehen.

Inzwischen pendelt der 53-Jährige viel zwischen Kitzingen und München. Denn seine Frau Cornelia von Pappenheim ist Geschäftsführerin des Gehörlosenverbandes München und Umland e.V., in dem sich auch Sipahi als zweiter Vorsitzender mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik engagiert.

Seit sieben Jahren kämpft der Kitzinger nun schon für einen Nachteilsausgleich für gehörlose Menschen in Bayern, den es in den meisten anderen Bundesländern schon gibt. Damit soll Menschen mit einer Behinderung ermöglicht werden, ihre Menschen-, Grund- und Bürgerrechte besser wahrnehmen zu können. Auch die Grünen-Landtagsabgeordnete Kerstin Celina (Landkreis Würzburg) macht sich für das Thema stark. Gemeinsam mit ihrer Fraktion hat sie in diesem Jahr erneut einen entsprechenden Antrag eingereicht, damit gehörlose Menschen ebenso wie Erblindete einen Nachteilsausgleich erhalten.

CSU lehnte Gehörlosengeld mehrfach ab

Seit 2011 gebe es im Landtag auch aus der CSU immer wieder Vorstöße in diese Richtung, sagt Celina. Doch es scheitere stets an der Mehrheitsfraktion der CSU. So wurde auch 2022 der Antrag der Grünen im Sozialausschuss mit der Mehrheit von CSU und Freien Wählern abgelehnt. Stattdessen wurde eine Einmalzahlung an Gehörlose in Höhe von 145 Euro mit dem Haushaltsplan 2022 beschlossen.

Die Grünen-Landtagsabgeordnete Kerstin Celina machte sich bei der Haushaltsdebatte im Bayerischen Landtag für das Gehörlosengeld stark.
Foto: Screenshot: Bayerischer Landtag | Die Grünen-Landtagsabgeordnete Kerstin Celina machte sich bei der Haushaltsdebatte im Bayerischen Landtag für das Gehörlosengeld stark.

Celina findet das "absurd". Eine Hörbehinderung sei schließlich nicht einmalig, sondern dauerhaft. Die Grünen würden deshalb ein Gehörlosengeld in Höhe von mindestens 352 Euro im Monat für vollständig ertaubte Menschen fordern und halb soviel für Menschen, die nachgewiesen zu mindestens 70 Prozent hörgeschädigt sind. Dies entspräche ungefähr 60 Prozent des in Bayern bezahlten Nachteilausgleichs für blinde und sehbehinderte Menschen. In Bayern seien  - so die Grünen - zirka 9000 Menschen vollständig ertaubt, weitere 6200 hätten mindestens 70 Prozent Hörbeeinträchtigung.

Namentliche Abstimmung bei Haushaltsdebatte im Landtag

Das bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales verweist auf Nachfrage dieser Redaktion darauf, dass die Übernahme der Kosten von Kommunikationshilfen für gehörlose Menschen über verschiedene gesetzliche Bestimmungen geregelt sei. So gebe es Unterstützung für die Arbeitsvermittlung, in Ämtern, Behörden, Kindertagesstätten und Schulen, bei Gerichtsverfahren, im Krankenhaus und über die Eingliederungshilfe. Die Einführung eines Gehörlosengeldes hingegen sei vom Landtag bereits mehrfach abgelehnt worden.

So auch erneut am Mittwoch in der Haushaltsdebatte des Landtags, in der die Grünen eine namentliche Abstimmung zum Gehörlosengeld beantragt hatten. Sie wurde mit 77 gegen 42 Stimmen abgelehnt. Kerstin Celina nannte in der Debatte die stattdessen beschlossene Einmalzahlung für einen lebenslangen Nachteil ein "Almosen", das "lächerlich" und allein der Landtagswahl geschuldet sei. Dass die CSU bei einer Haushaltssumme von 72 Milliarden Euro das Gehörlosengeld ablehne, sei "schäbig" und stehe "in der Tradition einer Sozialpolitik, die von oben Geld an alle ausgießt, um die eigene Macht zu erhalten".

Für die CSU sprach Thomas Huber (Oberbayern) von einer sehr emotionalisierten Debatte und verteidigte die Einmalzahlung als Ausgleich von coronabedingten Mehrausgaben. Eine Anfrage dieser Redaktion an Huber, warum sich die CSU gegen ein generelles Gehörlosengeld stelle, blieb unbeantwortet. Huber ist Berichterstatter der CSU für dieses Thema. Für die Freien Wählern nannte Susann Enders (Oberbayern) die Einmalzahlung einen ersten Schritt hin zu einem Gehörlosengeld, das die Freien Wähler innerhalb der Regierung weiter versuchen würden durchzubekommen.

Wozu Gehörlose den Nachteilsausgleich brauchen

Der private Bereich, Ehrenämter und politische Teilhabe blieben bei der Unterstützung für Gehörlose in Bayern völlig außen vor, kritisiert Can Sipahi aus Kitzingen. Hinzu kämen bestimmte medizinische Bereiche. Denn nur bei Kassenleistungen stünde Gehörlosen ein Gebärdensprachdolmetscher zu. Dabei gehe es ihm gar nicht in erster Linie um die Dolmetscher. Oft würden gehörlose Menschen gute Freunde oder Nachbarn um Hilfe bitten, wenn sie für eine größere Anschaffung beraten werden möchten oder einfach die Passage eines Behördenbriefes nicht verstehen würden. Denn im Gegensatz zu einem Hörenden könne er nicht einfach den Sachbearbeiter anrufen und nachfragen, sagt Sipahi. Deshalb würde er sich bei Helfenden gerne mal bedanken - mit einem kleinen Geschenk oder einer Einladung zum Essen.

Can Sipahi  mit seiner Kommunikationsassistentin Carina Heil in seinem Kitzinger Geschäft für Schmuck und Deko-Artikel.
Foto: Cornelia von Pappenheim | Can Sipahi  mit seiner Kommunikationsassistentin Carina Heil in seinem Kitzinger Geschäft für Schmuck und Deko-Artikel.

Zudem verbraucht er im Alltag viel mehr Strom. Um zu kommunizieren, benötige er viel Licht, um Gebärden, Lippen oder Gesten richtig interpretieren zu können. Hinzu kämen optische Hilfsmittel wie Spracherkennungssoftware oder Blitzlichter an Klingel und Rauchmelder. Für all diese Kosten und gelegentlich mal einen Dolmetscher für den privaten oder ehrenamtlichen Bereich sei das Gehörlosengeld ein Nachteilsausgleich, der helfen könnte, Gehörlose besser gleichzustellen.

Dabei sieht Sipahi Fortschritte bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung. Doch er frage sich, warum im Gegensatz zu Rollstuhlfahrerinnen und -fahrern oder erblindeten Menschen es noch keiner der 80.000 Gehörlosen in Deutschland in den Bundestag oder an verantwortliche Positionen einer Partei geschafft habe. Das liege seiner Meinung nach an der Tatsache, dass Gehörlose nicht in der Sprache der Mehrheit kommunizieren könnten. So blieben sie immer auf der zweiten Stufe, würden zu Menschen zweiter Klasse, die aber genauso Steuern zahlen würden, wie alle anderen auch.

Keine Dolmetscher für Schwimmkurse oder Ferienlager

Hinzu komme, dass auch in den Bereichen, in denen ihm ein Gebärdensprachdolmetscher oder Kommunikationsassistenz zustehe, ein fachfremder Sachbearbeiter im Inklusionsamt entscheide, ob und in welchem Umfang er diese Unterstützung erhalte, sagt Sipahi. In der Zeit der Corona-Maskenpflicht habe er beispielsweise keine Chance mehr gehabt, bei Kunden und Angestellten von den Lippen zu lesen. Sein Antrag auf mehr Assistenz sei aber abgelehnt worden. Durch seine Arbeit im Gehörlosenverband sei er mit einem besonders kuriosen Fall konfrontiert worden. Zwei Gehörlose mit demselben Beruf hätten an unterschiedlichen Orten in Bayern einen Antrag auf Kommunikationshilfe zur Ausübung ihres Berufes gestellt. Der eine habe 2500 Euro, der andere 800 Euro im Monat bewilligt bekommen.

Zudem bezahle das unterfränkische Inklusionsamt am "Zentrum Bayern für Familie und Soziales" in Würzburg einem Gebärdensprachdolmetscher nur 75 statt der bundesweit üblichen 85 Euro in der Stunde, sagt Sipahi. Würde er also einen Dolmetscher beantragen, stünde er immer in Konkurrenz zu den Krankenkassen, die für medizinische Zwecke 85 Euro bezahlen würden. Und dann argumentiere das Amt, es stünden einfach zu wenig Fachkräfte zur Verfügung.

Kerstin Celina berichtet von einer Familie mit zwei gehörlosen Töchtern aus dem Landkreis Würzburg, die zwar in der Schule einen Dolmetscher bekämen, nicht aber für den Schwimmkurs oder das Ferienlager der Gemeinde. Oft würde auch viel zu viel von den Dolmetscherinnen und Dolmetschern verlangt, sagt Sipahi. Eine Doppelbesetzung sei erforderlich bei über einer Stunde Dolmetschzeit. Ihm sei ein Fall aus Unterfranken bekannt, bei dem für ein gehörloses Mädchen für den ganzen Schultag nur ein Dolmetscher bewilligt worden sei. Laut Grundrecht sei jeder Bürger und jede Bürgerin gleichwertig zu behandeln, sagt Sipahi. Bayern dürfe niemanden ausschließen. Der 53-Jährige würde gerne von der Staatsregierung wissen, warum sie ein Grundrecht nicht befolge.

Das Gespräch mit Can Sipahi hat diese Redaktion mit Hilfe einer Gebärdendolmetscherin geführt. Die Kosten dafür hat der Verlag übernommen. Can Sipahi: "Das ist gelebte Inklusion, Sie sprechen nicht über, sondern mit einem Gehörlosen und bezahlen ihm sogar den Gebärdensprachdolmetscher."

 
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