Sie brauchen feste Strukturen und Tagesabläufe, Therapien und Ansprache. Und es benötigt viel Geduld und Einfühlungsvermögen, ihnen zu erklären, warum vieles vom Gewohnten derzeit nicht möglich ist. Behinderte und chronisch kranke Menschen sind durch die Corona-Pandemie oftmals doppelt betroffen und beeinträchtigt. Denn meist gehören sie auch zur Risikogruppe- und müssen deshalb besonders geschützt werden.
Als beim ersten Lockdown im Frühjahr die Werkstätten und Schulen für beeinträchtigte Menschen geschlossen wurden und die Heime und Wohngruppen strenge Auflagen erfüllen mussten, wuchs bei Verbänden und Gruppen, die in der Behindertenhilfe aktiv sind, die Befürchtung: Die in mühsamen Prozessen erreichte Inklusion behinderter Mitbürger drohe wieder "in den alten Zustand der Fürsorge und Bevormundung zurückversetzt" zu werden, schrieb die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe (BAG Selbsthilfe) in ihrem Forderungskatalog zur Corona-Pandemie.
Gewohnte Strukturen weggebrochen
"Diese Sorgen sind nicht unbegründet", sagt Barbara Stamm, ehemalige Landtagspräsidentin und Vorsitzende der Lebenshilfe Bayern. So sei die Eingliederungshilfe wieder sehr schnell auf den Pflegebereich reduziert worden. Menschen mit Handicap dürften aber nicht mit schwer Pflegebedürftigen gleichgesetzt werden, sagt die langjährige Würzburger Sozialpolitikerin. Sie hätten eigene soziale Kontakte, sie könnten und wollten auch arbeiten: "Da muss man immer wieder neu bewerten, was geht und was nicht."
Auch Kerstin Celina, Sprecherin für Sozialpolitik der Landtags-Grünen sagt: "Die wesentlichen Grundrechte, die seit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention in Trippelschritten erkämpft wurden, rutschen wieder sukzessive ganz nach hinten." Sie sehe die Gefahr, "dass das auch nach Corona so bleibt".
Bei der Lebenshilfe Schweinfurt geht man im Moment davon aus, dass die mühsam erkämpften Fortschritte in der gesellschaftlichen Mitbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung nicht grundsätzlich gefährdet sind: "Wir wissen aber, dass die derzeitige Situation Menschen mit Behinderung, ihre Angehörigen und Betreuer vor besondere, bisweilen enorme Herausforderungen stellt," sagt Sprecher Reto Glemser. Die durch Corona bedingte soziale Isolation sowie Arbeitsverbote würden Einsamkeit, Ängste und Trauer auslösen. Diese Situation zu erklären bedürfe viel Einfühlungsvermögen und Achtsamkeit. Die Lebenshilfe Schweinfurt versuche, die Betroffenen bestmöglich aufzufangen.
Behindertenwerkstätten geschlossen
Allerdings stoße man personell dabei auch an Grenzen. Als während des ersten Lockdowns alle sechs Werkstätten der Lebenshilfe Schweinfurt geschlossen werden mussten, habe man in den Wohnheimen eine 24-Stunden-Betreuung sicherstellen müssen. Dies sei nur gelungen, weil die Mitarbeiter dort Außergewöhnliches geleistet hätten - "weit über das übliche und erwartbare Maß hinaus", sagt Glemser.
Aus ihrer Arbeit als Behindertenbeauftragte des Bezirk Unterfranken sieht auch CSU-Bezirksrätin Karin Renner die komplette oder teilweise Schließung von Werkstätten als das größte Problem der Corona-Pandemie. So seien Klagen an sie herangetragen worden, dass einzelne Betroffene bis zu einem halben Jahr nicht an ihren gewohnten Arbeitsplatz durften und ihnen dadurch die gewohnte Tagesstruktur fehlte. Auch, dass Eltern oft lange Zeit ihre in Heimen oder Einrichtungen untergebrachten Kinder aus Infektionsschutzgründen nicht sehen durften, sei eine sehr schwere Situation gewesen. So hätten Eltern sich an sie gewandt, die nicht einmal einen Spaziergang mit ihren Kindern hätten machen dürfen. In vielen Fällen habe sie vermitteln und helfen können, so Renner.
Durch die Corona-Schutzmaßnahmen seien in Wohnheimen für Menschen mit geistigen Behinderungen die Gruppen strikt getrennt worden, berichtet Christina Feiler, Grünen-Bezirksrätin und stellvertretende Behindertenbeauftagte. Dadurch gebe es deutlich weniger Kontakte und weniger gruppenübergreifende Angebote. Die Bewohner reagierten gereizter und seien schwerer zu motivieren, sagt Feiler. Das Bedürfnis nach körperlicher Nähe sei dadurch noch einmal gewachsen. Dass in der Pflege Körperkontakt generell unumgänglich sei, bedeute jetzt eine "dauernde Gratwanderung zwischen ,weniger Nähe' und Risiko für Klient und Mitarbeiter".
Besonders schmerzhaft sei für sie als Vorsitzende der Lebenshilfe in Bayern, dass gute Konzepte und Kooperationen von Förder- und Regelschulen coronabedingt ausgesetzt werden mussten, sagt Barbara Stamm. Das sei der besonderen Lage geschuldet, sie werde aber darauf achten, dass diese Konzepte nach der Pandemie gleich wieder starten können.
Auch Angehörige enorm belastet
Auch den pflegenden Angehörigen werde derzeit enorm viel abverlangt, sagt Reto Glemser. 70 Prozent der Pflegebedürftigen werden nach Angaben der BAG Selbsthilfe zu hause gepflegt. Die Angehörigen seien damit "der größte Pflegedienst der Nation". Wer im Lockdown sein schulpflichtiges Kind zu Hause betreut habe und dafür seinen ganzen Urlaub aufbrauchen oder nebenher im Homeoffice arbeiten musste, wisse, wovon die Rede sei, sagt Glemser. Zusätzlich ein pflegebedürftiges Familienmitglied rund um die Uhr betreuen zu müssen - "da sind sicherlich sehr viele Angehörige von Menschen mit Behinderungen an ihre körperlichen, emotionalen und manchmal auch finanziellen Grenzen gestoßen", sagt der Lebenshilfe-Sprecher.
Auch Bezirksrätin Christina Feiler sieht die große Belastung der Familien und der Alleinerziehenden, zumal auch Unterstützungen wie der "Familien entlastende Dienst" weggefallen seien. Inzwischen sei das besser gelöst, weil Einrichtungen wie Schulen und Werkstätten offen gehalten werden könnten.
Auch die Behinderten-Werkstätten hätten wirtschaftlich unter der Schließung gelitten, sagt Barbara Stamm. Zudem seien als Folge der Pandemie die Ausgleichsabgaben der Unternehmen zurückgegangen, die keine oder nicht genügend Menschen mit Behinderung beschäftigen. "Wo bleibt der Rettungsschirm für behinderte Arbeitnehmer und die Werkstätten für Behinderte?", fragt Stamm. Die Lebenshilfe werde hier ihre Stimme erheben.
Die Vorsitzende fürchtet zudem, dass die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes unter Corona leide. Denn die Bedarfsermittlung dürfe sich nicht am Budget der Träger orientieren, sondern allein an den Bedürfnissen der Betroffenen. Zum Beispiel, wenn es um die Frage gehe, ob jemand mit Assistenz alleine statt in einer Einrichtung leben möchte.
Die Würzburger Landtagsabgeordnete Kerstin Celina fordert, Strukturen wie das gemeinsame Essen und Arbeiten dringend aufrechtzuerhalten. Die Einrichtungen für Behinderte müssten dafür mit FFP-2-Masken und Schnelltests ausgestattet werden. Und noch immer gebe es für Menschen mit Behinderung keinen Mindeststandard für Freiheit, Kontakte und Selbstbestimmung in Coronazeiten, mahnt Celina. Sie fordert einen Kontakt pro Tag - unabhängig vom Pflegepersonal - für jeden Bewohner einer stationären Einrichtung. Die Staatsregierung müsse dieses Ziel definieren und die Träger der Einrichtungen bei der Umsetzung auch finanziell unterstützen.
Schon die Ausstattung und Einweisung mit Schnelltests sei von Gesundheitsamt zu Gesundheitsamt in Bayern extrem unterschiedlich, sagt Barbara Stamm. Sie wehre sich dagegen, dass Behinderteneinrichtungen diese Tests dann auch noch übernehmen sollten. Genau wie in den Altenpflegeheimen sei das Personal schon jetzt am Anschlag: "Was sollen die denn noch alles tun?"
Gerät Barrierefreiheit aus dem Blick?
Natürlich bedeute Corona für alle eine riesige Einschränkung, bilanziert Christina Feiler, die stellvertretende Behindertenbeauftragte des Bezirks: "Für Menschen mit Behinderung sind die Auswirkungen aber sicher gravierender." Nur würde und könnten sich diese selbst nur wenig zur Wehr setzen. Feiler befürchtet zudem, dass durch Corona das "sehr hochgesteckte Ziel", Bayern bis 2023 barrierefrei zu machen, nicht erreichbar sei. Viele Maßnahmen würden aus Kostengründen verschoben oder aufgehoben. So habe die Gemeinde Veitshöchheim den Bau einer Rampe in den Mainfrankensälen aus finanziellen Gründen vertagt - und schon gebe es Stimmen, sie ganz zu streichen. "Auch andernorts werden die Gemeindekassen leerer bleiben", sagt Feiler, selbst Gemeinderätin in Veitshöchheim. "Wer weiß ob das ein oder andere Projekt so nicht auf der Strecke bleibt".
Der Autor ist selbst Vater eines durch eine chronische Krankheit behinderten Sohnes.