
Eigentlich fehlt nur noch die Verfilmung, der Madonnenraub von Volkach hätte alle Zutaten für einen abendfüllenden Krimi oder eine Miniserie bei Netflix: Der Diebstahl wertvoller Riemenschneider-Figuren aus einer Kapelle im idyllischen Volkach (Lkr. Kitzingen), ein Lösegeld-Angebot im "Stern" von dessen Chefredakteur Henri Nannen, zwielichtige Täter – und letztlich sogar ein Happy End. Genau 60 Jahre ist einer der spektakulärsten Kunstdiebstähle der deutschen Geschichte her. Aber in Vergessenheit geraten ist er nicht.
Bei Ludmilla Gabelmann sowieso nicht. Sie war am frühen Morgen des 7. August die erste, die Geräusche bemerkte und daraufhin ihren Vater Philipp Jäcklein weckte. Der Mesner lebte damals im Haus neben der Kapelle "Maria im Weingarten". Seine Frau war gestorben, die Tochter darum vorübergehend zu ihm gezogen, weil sie den Vater nicht allein lassen wollte auf dem Kirchberg.

Heute sagt die 95-Jährige, diese Nacht habe sich "eingebrannt" in ihr Gedächtnis. So sehr, dass sie von der Nacht erzählen kann, als wäre sie vergangene Woche erst gewesen, als läge dazwischen nicht ein langes Leben.
Tochter des Mesners hört Motorengeräusche und sieht den Pritschenwagen
Gegen 4 Uhr nachts hört die 35-Jährige Motorengeräusche, "und Motorengeräusche sind ja schon was Komisches im Weinberg". Von ihrem Fenster aus sieht sie einen Pritschenwagen an der Längsseite des Hauses vorbeifahren. Auf der Ladefläche liegt etwas, doch erkennen kann Ludmilla Gabelmann (damals noch Jäcklein) es nicht. Sie weckt ihren Vater und sie laufen die wenigen Schritte hinüber zur Kapelle. Sie sehen, dass deren Hintertüre der Kirche offensteht – und die Zerstörung. Da es weder Sicherungsanlagen noch Telefon am Kirchberg gab, schwingt sich der Mesner aufs Rad und fährt zur Polizeiwache, die es damals noch in Volkach gibt.

Während unten im Städtchen der Polizeieinsatz anläuft, wartet die Mesnertochter oben im Haus. Das sei "die schlimmste Zeit" gewesen, erinnert sie sich heute daran: "Ich saß in der Fensternische und schaute Richtung Volkach den Kirchbergweg runter und es tat sich stundenlang nichts. Ich hatte Angst."
Später stellt sich heraus, dass die Täter nachts durch ein kleines Fenster eindrangen und sich abseilten, ehe sie die Kunstschätze von der Wand rissen und durch die Hintertür hinausschleppten. Damaliger Schätzwert der Rosenkranz-Madonna, Riemenschneiders letztem Marienwerk: bis zu zwei Millionen Mark. "Auf dem Hauptgang der Kirche war alles übersät mit Teilen von der Madonna, wie als ob Blumen gestreut wären", sagt Ludmilla Gabelmann über das Ausmaß der Zerstörung.

Danach folgen Wochen mit Polizei im Haus, eine Hundertschaft sucht die Maingegend ab – und Familie Jäcklein muss Verdächtigungen aushalten. Es dauert nicht lange, bis der Chefredakteur des "Stern", Henri Nannen, bei ihnen im Wohnzimmer sitzt und mit ihnen selbst über den Plan spricht, für die Rückgabe der Kunstschätze aus der Kapelle ein Lösegeld von 100.000 Mark zu bezahlen. Weil er Kunsthistoriker sei, und "weil er auch auf eine andere Klientel schiele", erinnert sich Ludmilla Gabelmann. Da war der Artikel im "Stern" bereits erschienen, die mediale Aufregung enorm.
Die Madonna im Rosenkranz hängt heute vor einem umstrittenen Altarbild
Eine Aufregung, die ganz im Gegensatz zu der Ruhe steht, die Besucherinnen und Besucher des Kirchbergs heute erwartet. Herbert Meyer hat unzählige Gruppen hierher geführt, in der Kapelle wird er sofort wieder zum begehrten Historiker. Einige Ausflügler aus Paderborn hören ihm aufmerksam zu, als er von der Diskussion über das ebenso moderne wie umstrittene Altarbild des damaligen Domkapitulars Dr. Jürgen Lenssen berichtet.

Die spannendste Geschichte ist und bleibt jedoch der Madonnenraub, dessen Folgen Herbert Meyer damals von Würzburg aus verfolgte. Gemeinsam mit "halb Volkach" nahm er später Jahr für Jahr an einer Sühneprozession hoch zur Wallfahrtskirche teil: 50 Jahre lang Dank sagen für die erfolgreiche Rückkehr der Figuren auf den Kirchberg. Der Dank Henri Nannen gegenüber war sogar so groß, dass die Stadt ihn zum Ehrenbürger ernannte.

Eine Würde, die Herbert Meyer 50 Jahre später zuteil wurde. Heute kann der 89-Jährige den Gästen zeigen, durch welches kleine Fenster sich die Täter quetschten und wo sie sie die Schätze über die Mauer hievten. Im kleinen Garten davor steht ein Trampolin, eine Familie hat das gelbe Haus neben der Kapelle gemietet. An die Aufregung vom August 1962 erinnert nichts mehr.
Der Mesner und seine Familie wurden von manchen beschimpft
Doch in Ludmilla Gabelmanns Gedächtnis ist sie präsent, die "kolossale Belastung", die ihre Familie nach dem Raub aushalten musste. "Mein Vater und wir wurden beschimpft von manchen." Und es hieß: "Warum habt ihr nicht aufgepasst?" Andere verdächtigten ihre beiden jüngeren Brüder, einer war damals zum Urlaub in Schweden, der andere lebte in Norddeutschland.
Rund vier Wochen dauerte es, bis die Jäckleins offiziell vom Verdacht befreit wurden. Da lief die Rettungskampagne von Henri Nannen, die gleichzeitig ein riesiger PR-Coup für den "Stern" war, bereits auf Hochtouren.
Ludmilla Gabelmann blieb nach dem Madonnenraub noch knapp zwei Jahre in Volkach, ehe sie 1964 in München heiratete und dorthin zog. Erst Jahrzehnte später konnte die Mesnertochter wieder unbefangen nach Volkach fahren. Sie ist ein religiöser und tiefgläubiger Mensch geblieben – und hat ihre einzige Tochter Eva-Maria genannt.