
Auf einer Wiese am Main, dort wo das Gewerbegebiet Dettelbach Ost friedsam ausfranst und in die Natur übergeht, steht ein kleines Haus aus rotem Ziegelstein. Alles Leben ist längst aus ihm gewichen, und vielleicht hat das Häuschen nur deshalb überlebt, weil es am Rande des pulsierenden Areals mit seinen monströsen Hallen niemandem groß im Weg steht.
Wie in einem modernen Monopoly sind die Flächen hier penibel parzelliert und geordnet, man denkt eher in Hektar als in Quadratmetern, und für das aus der Zeit gefallene Gebäude gibt es in diesem Millionenspiel eigentlich keinen Platz. Dabei hatte das Gelände, auf dem es steht, das Potenzial zu Exklusivem. Glaubt man den Gerüchten, dann hätte hier eine Art Schlossallee entstehen können.

Das Häuschen am Hafen ist ein Relikt, das sich bis heute gegen den Fortschritt gewehrt hat. Als hier vor gut 20 Jahren die Fulgurit-Werke untergingen, ein Riesenreich aus Fabrik- und Lagerhallen, hat es als eines der wenigen Objekte überlebt. Und so steht es nun in der Landschaft wie ein Zwerg aus der Steinzeit gegen all die Riesen der Moderne: Logistiker, Spediteure, Recycling- und Baustoffbetriebe.
Die alte und die neue Welt – zwischen ihnen liegen Jahrzehnte. Aber hier, bei Flusskilometer 295, verschwimmen die Grenzen von damals und jetzt. Und es ist nicht lange her, da soll ein bekannter Mann große Pläne für das Areal am Hafen gefasst haben.
Das Kesselhaus beflügelt die Fantasie wie in einem alten Theater
Wer heute Industrieruinen wie diese betritt, bekommt immerhin einen kleinen Ausschnitt aus der großen Welt von damals. Er wird zurückkatapultiert in die Blütejahre des Wirtschaftswunders. Gleißende Helligkeit flutet durch schmale Schlitze der größtenteils mit Brettern vernagelten Fenster, als wolle sich das Haus am Hafen selbst vor allzu tiefen Blicken schützen.


Man fühlt sich wie in der Requisitenkammer eines aufgelassenen Theaters, fast alles ist noch da, und man erahnt, was sich hier, im ehemaligen Kesselhaus der Fulgurit, einmal abspielte. Zwei große Räume, die die Fantasie beflügeln: der eine durchdrungen von Pumpen, Kesseln und Zylindern, dazu einem Labyrinth von Druckleitungen, der andere vollgestopft mit Mahlwerken, von denen eines an eine große Teigschüssel erinnert.
Die Schaltschränke sind geöffnet, alle Sicherungen verschwunden
Die elektrischen Schaltschränke sind weit geöffnet, geplündert um sämtliche Sicherungen. Man blickt auf reihenweise Schalter und Kontrollleuchten, die über Wasserstände, Wärme und Elektrizität wachten. Durch den Raum ziehen sich verwinkelte Rohre, an ihnen hängen Steuer- und Ventilräder, die überwuchert sind von Rost und dem Firnis der Vergangenheit. Die Szenerie wirkt wie in einem Zeitlabor aus den 1960er-Jahren. Alles Dinge, die einmal einen Zweck hatten und jetzt in ihrer Vergessenheit nur noch schön aussehen, aber nicht mehr nützlich sind.


Die Typenschilder der Maschinen, Aggregate und Armaturen, sie lesen sich wie eine Ahnengalerie deutscher Industriegeschichte. Bekannte Namen sind darunter wie AEG, aber auch unbekanntere wie Lurgi, Herion oder Giesemann & Stucke. Viele existieren nicht mehr, wurden liquidiert, entkernt, zerschlagen, bestenfalls geschluckt und unter anderen Vorzeichen fortgeführt.
Das Fulgurit-Gelände war größer als das Areal der Hannover-Messe
Man denkt sich zurück in die alte Bundesrepublik, als Kohle und Öl wie selbstverständlich zum Aufstiegsversprechen gehörten – und Asbestzement als Baustoff der Zukunft galt: effizient, robust, billig. Ab 1962 belegten die Fulgurit-Werke in Dettelbach eine Fläche von einer Million Quadratmetern, sie waren größer als das Areal der Hannover-Messe und gaben in Spitzenzeiten etwa 440 Menschen Lohn und Arbeit.
Weil das Rohmaterial Asbest damals oft aus Ländern in Übersee geliefert wurde, baute man die Fabrikhallen an den Main und den dazugehörigen Hafen gleich mit. In den Kugel- und Hammermühlen der Fulgurit wurde dem Asbest Zement zugesetzt – das Ganze kräftig durchgemischt ergab den in Wohn- und Industrielandschaften verbauten Asbestzement. Auch Schiffswerften oder Autobauer stürzten sich auf das wetter- und feuerfeste Material.

Bis Anfang der 1980er-Jahre machte man mit der "Wunderfaser" in Dettelbach glänzende Geschäfte. Doch dann stellte sich heraus: Das Zeug macht krank. Die feinen Fasern standen im Verdacht, Lungenkrebs zu fördern. Franz Ungemach hat bei Fulgurit gearbeitet, karrte 15 Jahre lang den Asbestzement in Lkws durch die Gegend. "Hat ja keiner gewusst damals", sagt der Dettelbacher, wenn man ihn heute auf die versteckte Gefahr anspricht.
Die Verwendung von Asbest ist seit 1993 in Deutschland verboten
Eine Zeitlang versuchte die Branche noch gegenzusteuern und dem Teufelszeug den Schrecken zu nehmen. "Nicht gefährlicher als Fliegen oder Autofahren", hieß es damals in den Werkhallen. Doch irgendwann verfingen die Kampagnen der mächtigen Lobby-Verbände nicht mehr. 1993 wurden die Verarbeitung und die Verwendung von Asbest in Deutschland verboten, andere Länder in Europa zogen nach. "Man hat zunächst noch andere Sachen probiert und zum Beispiel mit Zellulose experimentiert", erinnert sich Ungemach.

Der Niedergang des Fulgurit-Werks in Dettelbach war damit nicht mehr aufzuhalten. Er vollzog sich in Etappen: erst mit dem Abbau von Arbeitsplätzen und dann, Anfang des Jahrtausends, mit der Schließung des kompletten Werks. Die Fabrik hatte Dettelbach über Generationen hinweg ernährt, nun hatte sie sich in eine Art schwarzes Loch verwandelt, und es blieb nichts als Leere, Stille und Verzweiflung.
Als die alte Industriehochburg geschleift, das Aufstiegsversprechen geplatzt war, kam einer, der ein neues Versprechen gab. Reiner Fränkle, ein Immobilienentwickler aus dem Badischen, kaufte das Hafengelände zu einer Zeit, in der die Vergangenheit von ihm abgefallen war, ohne dass die Zukunft schon begonnen hätte. Und offenbar – so erzählt man es sich in Dettelbach bis heute hinter vorgehaltener Hand – tauchte in der unterfränkischen Provinz plötzlich ein schillernder Schotte mit verwegenen Ideen auf.


Gemunkelt wird, dass der Formel-1-Fahrer David Coulthard hier etwas Ähnliches aufziehen wollte wie 30 Kilometer südwärts die Bavaria Yachtbau in Giebelstadt: eine Werft für exklusive Segelyachten und Motorboote, möglichst mit dazugehöriger Marina.
Der 2020 ins Amt gewählte Dettelbacher Bürgermeister Matthias Bielek weiß nichts von einem solchen Projekt, und auch Reinhold Kuhn, einer seiner Vorgänger, will sich an einen derartigen Vorgang nicht erinnern. So bleibt die Erzählung um den waghalsigen Rennfahrer eine tollkühne Abenteurer-Geschichte. Eines aber ist sicher: Das Häuschen am Hafen hätte den Millionendeal kaum überlebt.
danke für Ihren Hinweis. Von einem "monströsen Hafen" steht allerdings nichts in dem Artikel. Monströs sind die Hallen der Logistiker und Speditionen drumherum.
Eike Lenz, Main-Post-Redaktion Kitzingen
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