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Kitzingen
"Juristische Hochseilartistik": Kitzinger Richterin erklärt ihr Kirchenasyl-Urteil
Patricia Finkenberger hat einen Geistlichen freigesprochen, obwohl er gegen das Gesetz verstoßen hat. Nicht aus Gnade, wie die Juristin im Interview betont.
Bruder Abraham musste sich Ende April vor dem Amtsgericht Kitzingen wegen der Gewährung von Kirchenasyl verantworten. Richterin Patricia Finkenberger sprach den Geistlichen frei.
Foto: Frank Weichhan | Bruder Abraham musste sich Ende April vor dem Amtsgericht Kitzingen wegen der Gewährung von Kirchenasyl verantworten. Richterin Patricia Finkenberger sprach den Geistlichen frei.
Moritz Baumann
Moritz Baumann
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:24 Uhr

Es war ein Montag im April, um die Mittagszeit, als Patricia Finkenberger im Namen des Volkes urteilte: Im Sitzungsaal 102 des Kitzinger Amtsgerichts saß Bruder Abraham Sauer. Der Benediktiner aus dem Kloster Münsterschwarzach (Lkr. Kitzingen) war angeklagt, weil er einem 25 Jahre alten Mann aus dem Gazastreifen Kirchenasyl gewährt hatte. Richterin Finkenberger jedoch sprach den Geistlichen frei.

Das Urteil hat eine kontroverse Debatte über das Kirchenasyl entfacht. Nun erklärt Finkenberger erstmals ausführlich ihre Entscheidung. Im Interview mit dieser Redaktion hebt die Juristin die Bedeutung der Glaubens- und Gewissensfreiheit hervor und wehrt sich gegen den Vorwurf, sie habe "Gnade vor Recht" ergehen lassen.

Frage: Frau Finkenberger, Sie haben den Ordensbruder Abraham Sauer freigesprochen, obwohl die Staatsanwaltschaft ihm "Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt" vorwirft. Warum sind Sie dem nicht gefolgt?

Patricia Finkenberger: Ich habe genauso wie die Staatsanwaltschaft festgestellt, dass es sich bei dem Kirchenasyl um eine rechtswidrig begangene Straftat handelt. Jedoch lag meines Erachtens – in diesem speziellen Fall – ein Entschuldigungsgrund vor, der in den unantastbaren Grundrechten von Bruder Abraham Sauer wurzelt – nämlich in der Glaubens- und Gewissensfreiheit.

Was bedeutet eine solche "Entschuldigung" im Strafrecht?

Finkenberger: Als Strafrichterin muss ich zunächst prüfen, ob eine Straftat begangen wurde, dann, ob diese rechtswidrig begangen wurde. Wer beispielsweise in Notwehr handelt, wird nicht bestraft. Das dritte – und im Fall Bruder Abraham entscheidende – Kriterium ist die Schuld. Beim Kirchenasyl besteht ein Konflikt zwischen der Straftat "Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt" und der in der Verfassung verankerten Glaubens- und Gewissensfreiheit. Mit der Annahme eines Entschuldigungsgrundes habe ich dieses Grundrecht berücksichtigt.

Warum ist die Schuld eine so entscheidende Kategorie?

Finkenberger: Das ganze Strafrecht basiert auf Schuld – zum Glück. Die Motive, warum jemand eine Straftat begeht, können sich sowohl strafschärfend als auch strafmildernd auswirken. Und sie können auch ausnahmsweise zur Straffreiheit führen. Das ist allgemein anerkannt.

"Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt" ist, so hat es der Gesetzgeber entschieden, eine Straftat. Muss das nicht der Maßstab für Ihre Entscheidung sein?

Finkenberger: Das ist der Maßstab, aber nicht der alleinige. Eine Norm darf nie isoliert betrachtet werden. Die Rechtsordnung muss immer in ihrer Gesamtheit angewendet werden. Dazu gehören auch alle Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, die eine Bestrafung eventuell ausschließen. Solche ergeben sich nicht nur aus dem Strafgesetzbuch, sondern sehr oft aus anderen Gesetzen oder dem Grundgesetz. Auf die Möglichkeit einer Entschuldigung in Fällen des Kirchenasyls hat das Oberlandesgericht München bereits 2018 hingewiesen.

In den sozialen Netzwerken haben viele Leserinnen und Leser kritisiert, Sie hätten "Gnade vor Recht" ergehen lassen ...

Finkenberger: Es geht bei Bruder Abraham nicht um Gnade. Ich habe nicht gegen das Gesetz entschieden, sondern das Grundgesetz – in diesem Fall das Grundrecht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit – direkt angewendet. Das kommt selten vor, ist aber zulässig. Das Ergebnis beruht dann auf einer Abwägung, die in diesem Einzelfall zugunsten des Grundrechts ausging. Doch machen wir uns nichts vor: Das ist juristische Hochseilartistik, die aber wohl auch der nächsten Instanz nicht erspart bleibt.

Können Sie erklären, welche Rechts- und Verfassungsgüter beim Kirchenasyl in Konflikt geraten?

Finkenberger: Auf der einen Seite die Glaubens- und Gewissensfreiheit, auf der anderen Seite die Rechtsordnung als solche. Bei dem Geflüchteten handelt es sich um einen völlig unbescholtenen jungen Mann, von dem keine Gefahr für die innere Sicherheit ausgeht. Das ist sehr wichtig. Dann ist zu berücksichtigen, dass die Gewährung von Kirchenasyl keine Grundrechte Dritter verletzt. Ein Gegenbeispiel: Aus Glaubensgründen Kinder zu schlagen oder Tiere zu quälen, wäre eindeutig strafbar. Die "Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt" stellt dagegen im Strafrecht eher einen Formalverstoß dar.

In Ihrem Urteil beziehen Sie sich unter anderem auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1971.

Finkenberger: Richtig. Damals ging es um eine Frau, die nach einer schwierigen Hausgeburt im Krankenhaus hätte behandelt werden müssen, dies jedoch aufgrund religiöser Vorstellungen verweigerte und verstarb. Ihr Mann teilte ihre religiöse Überzeugung, unternahm nichts und wurde später wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer Geldstrafe von 200 D-Mark verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass auch diese geringe Strafe die Glaubensfreiheit des Ehemanns verletze.

Was schlussfolgern Sie daraus?

Finkenberger: Im damaligen Fall ging es um Leben und Tod. Dennoch entschied das Bundesverfassungsgericht, dass eine Bestrafung unangemessen ist. Das unterstreicht die Bedeutung der Glaubens- und Gewissensfreiheit – als eine ernste, auf einer tiefen Überzeugung beruhende und an den Kategorien von "Gut" und "Böse" orientierte Entscheidung, die jemand innerlich als bindend und unbedingt verpflichtend erfährt. Das Bundesverfassungsgericht hat andernorts klar entschieden, dass die Gewissensfreiheit nicht nur vor einer Duldung staatlicher Maßnahmen schützt. Sie ermöglicht auch ein positives Tun: Im Ernstfall muss es dem Bürger erlaubt sein, zu handeln – wenn er ansonsten in ernste Gewissensnot geraten würde.

Fünf Wochen nach dem Freispruch in Kitzingen hat das Amtsgericht Würzburg die Oberzeller Ordensschwester Juliana Seelmann in einem vergleichbaren Fall verurteilt. Der Richter stützte sich dabei auf das in der Verfassung verankerte Rechtsstaatsprinzip. Beide Urteile sind bislang nicht rechtskräftig. Mit der nächsten Instanz rückt ein Grundsatzurteil näher.

 
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  • hans-martin.hoffmann@t-online.de
    Über meiner Tür hängt ein Spruch

    "es wünsch uns jeder was er will, so schenk ihm Gott dreimal soviel".

    Liebe Leut' die Ihr alle so überzeugt davon seid, allen "Scheinasylant/innen" geschähe es Recht hier wieder herauszufliegen in Länder mit vorsichtig ausgedrückt unterfinanziertem aber dafür überbeschäftigtem Sozialsystem, betet dafür (oder was auch immer) dass Ihr nie selber solchen Gesetzen zum Opfer fallt bzw. dafür dass Euch dann jemand davor bewahrt, in (sowas Ähnliches wie) die Hölle auf Erden (zurück)geschickt zu werden.

    Und seid gewiss, das was wir heute an Fluchtbewegungen haben ist ein laues Lüftchen gegen das was noch kommt, wenn Temperatur und Meeresspiegel weiter steigen. Ich bin mir sicher, eines (unschönen) Tages werden "Gesetze" nicht mehr reichen, uns (bzw. unsere Nachfahren) vor den Konsequenzen zu bewahren. Es ist eine gute Frage, ob wir dann die Gnade gewährt bekommen, die wir selber zu gewähren uns geweigert haben.
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  • manfred-englert@hotmail.de
    Im Würzburger Fall handelt es sich nach meinem Ermessen um den eigentlich schwierigeren Fall, da ja die (abstrakt oder konkret?) Gefahr besteht, daß diese Frauen, zwar abgeschoben in einen EU Staat, jedoch dort in die Fänge mafiöser Strukturen zurückfallen könnten. Während dessen beim Schwarzacher Fall niemals von solchen oder ähnlich drohenden Gefahren geschrieben wurde. Deshalb muß, werte Frau Richterin, Ihr Urteil angefochten werden, denn jeder Vertriebene muß dort Asyl beantragen, wo er unser europäisches Gebilde betritt. Ich kann Ihre Haltung weder verstehen noch akzeptieren, denn Sie hebeln das aus, was die Staaten Europas so beschlossen haben. Wie gesagt, bei den Frauen in Würzburg handelt es sich um einen total anders gelagerten Fall.
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  • johannes-fasel@t-online.de
    Richterin Finkenberger unterstreicht die Bedeutung der „Glaubens- und Gewissensfreiheit“.
    Dann ist es wohl auch die „Glaubens- und Gewissensfreiheit“ die bei den pädokriminellen Straftaten zur flächendeckenden und systematischen Vertuschung und Strafvereitelung berechtigt???
    Mit „Glaubens- und Gewissensfreiheit“ können doch wohl kaum Straftaten gerechtfertigt werden.
    „Glaubens- und Gewissensfreiheit“ kann doch wohl allenfalls im Sinne einer verminderten Schuldfähigkeit, weil der Täter unfähig ist das Unrechtmäßige seiner Tat zu erkennen, zu einer sehr milden Strafe (ggf. auf Bewährung) führen.
    Das halte ich auch nicht für „juristische Hochseilartistik“ sondern für das „Kleine Ein-mal-Eins“ der Rechtssprechung.
    Die Frage ist doch, ob das Staatswesen zu seinen Regeln steht - oder vor der Macht der Kirchen einknickt.
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  • Albatros
    Richterin Finkenberger spricht von einem Hochseilakt, und das ist es tatsächlich. Einerseits handelt es sich bei dem gewährten Kirchenasyl um eine rechtswidrig begangene Straftat, andererseits begründet sie Ihren Freispruch mit der in der Verfassung verankerten Glaubens- und Gewissensfreiheit, welche selbstverständlich auch für Bruder Abraham gilt. Allerdings zählt, wie Gert-raud bereits völlig richtig erkennt, dieses Grundrecht für Jedermann. Somit würde das Urteil jedem Bürger in diesem Land die Möglichkeit einräumen, ungestraft Asyl zu gewähren; dies kann so nicht gewollt sein. Für mich als juristischen Laien und vermutlich für viele Leser stellt sich die Frage, wie sinnhaft es ist, wenn ein Gesetz das andere aushebelt. Sehr viele Urteile sind für uns Bürger nicht mehr nachvollziehbar, dabei sollte Rechtsprechung das Rechtsverständnis einer Gesellschaft widerspiegeln, ob dies in Deutschland immer noch "Im Namen des Volkes" der Fall ist, wage ich zu bezweifeln.
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  • daniel.englbauer@churchsol.de
    Dass solche Urteile jedem Bürger die Möglichkeit eröffnen würde, Asyl zu gewähren, wurde in verschiedenen Threads schon geäußert, ist aber zu kurz gedacht, weil wiederum Tradition und Historie außer Acht gelassen werden.
    Eine Privatwohnung darf ja unter bestimmten Umständen von der Polizei auch gegen den Willen der Bewohner betreten und durchsucht werden. Dass je eine Kirche von der Polizei gestürmt worden wäre, habe ich persönlich noch nicht gehört. Sakralgebäude galten immer als "heiliger Boden", die unter dem Schutz eines Höchsten stehen. Das wurde respektiert.
    Unabhängig davon hat schon jetzt jeder Bürger die Möglichkeit, sich einem AK Asyl anzuschließen oder bei einem Kirchenasyl in der Gemeinde mitzuhelfen (einkaufen, Sprachunterricht, Beschäftigung), und das ganz ohne dass er/ sie sich der Mittäterschaft schuldig macht.
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  • ralfestenfeld@aol.com
    Kern ist, dass in beiden Fällen die Mitarbeiter/innen der Kirche Position beziehen. Inwieweit dann der jeweilige Fall strafrechtlich zu bewerten ist, ist Aufgabe der Gerichte - gottseidank! Und dass dort trotz bestehender Paragraphen und Urteilen aus der Vergangenheit unterschiedliche Bewertungen vorkommen, ist im wahrsten Sinne des Wortes MENSCHLICH.
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  • stefan.behringer@web.de
    Wenn das so ist, dann ist, dann könnte ja jeder aus religiösen Gründen Abschiebungen verhindern. Er muss lediglich von seinem Glauben (nicht unbedingt christlicher Glaube) davon überzeugt sein.
    Auch das Urteil von 1971, in dem jemand zurecht aus Glaubensgründen die notwendige Krankenhausbehandlung verweigert, und der Kranke deshalb gestorben ist, widerspricht meinem persönlichen Rechtsbewusstsein völlig.
    Dieses 50 Jahre alte (nach menschlichem Ermessen erschütternde) Urteil für heutige Fälle heran zu ziehen....da rollen sich die Zehnägel.

    Allerdings: Grundsätzlich nehme ich den Patern und Schwestern schon ab, dass Sie aussschließlich aus Glaubens- und Gewissensgründen versuchen, das Beste für diese Flüchtlinge heraus zu holen und da auch mal Grenzen ausreizen.
    Von daher wäre es wichtig, diese Sache einfach mal höchstrichterlich zu klären.
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  • attheendoftheday
    Mal gespannt, ob die ehrenwerte Schwester Juliana auch so milde behandelt wird, wenn ihr Fall nochmals aufgerollt wird...
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