Sie haben es rausgeschafft aus Kabul, gerade noch. Mit Glück – und der Hilfe eines deutschen Soldaten. Ein letzter Besuch in der alten Heimat Afghanistan sollte es werden für Familie Hamkar aus Großlangheim (Lkr. Kitzingen). Noch einmal die Großmutter sehen, Onkel treffen, mit Cousinen tanzen, bevor die internationalen Truppen nach 20 Jahren wieder das Land verlassen. Ob er denn keine Angst habe, jetzt noch nach Afghanistan zu fliegen, hatte der Grenzbeamte bei der Ausreise aus Deutschland am 17. Juli gefragt. Hatte Vater Abdul-Hadi Hamkar nicht.
Vor 21 Jahren ist der heute 55-Jährige mit seiner Frau Nasrin und den drei Kindern schon einmal vor dem Terror der Taliban aus Afghanistan geflohen. Er war damals Flugingenieur beim Militär, seine Frau Chemie-Lehrerin. Als sie in Würzburg ankamen, war der jüngste Sohn gerade mal einen Monat alt. Über Umwege und durch den Dschungel eines langwierigen Asylverfahrens fanden sie ihren Weg nach Großlangheim, bauten sich mit der Gaststätte eine neue Existenz auf. Fühlten sich sicher.
Doch nun ist sie wieder da, die Angst. Die Hamkars tragen sie nicht vor sich her, wenn sie Gäste empfangen in der Pizzeria "Zum Hadi" in der Mitte des 1600-Einwohner-Dorfes im Landkreis Kitzingen. Der Vater, von allen Hadi genannt, bleibt nie lange sitzen. Zu tun gibt es immer etwas. Tochter Schugufa Hamkar, 23, scheint dem erlebten Terror der Taliban mit besonders viel Lächeln begegnen zu wollen. Sie sitzt neben ihrem Mann Shirzai Masihullah, 26, an einem der Tische, Mutter Nasrin Hamkar, 53, gegenüber.
Eine Willkommensparty für die Cousine aus Australien
Mit dem Smartphone in der Hand erzählen sie von dem dramatischen Ende eines Besuchs, der das Ehepaar zusammen mit Tochter und Schwiegersohn in schicke Cafés und zu unbeschwerten Abenden mit der großen Familie geführt hatte.
Die Fotos zeigen die Frauen der Familie in farbenfrohen Roben, sorgfältig geschminkt, strahlend. Es gibt eine Willkommensparty für Schugufas Cousine, die mit ihren elf Jahren aus Australien erstmals in die afghanische Heimat der Mutter gereist ist.
Das fröhliche Familientreffen endet so abrupt wie die demokratische, islamische Republik Afghanistan. "Wir wussten, dass die Amerikaner das Land verlassen, aber wir dachten, bis 19. August ist es sicher", sagt die 23-jährige Schugufa beim Treffen mit dieser Redaktion am Donnerstag. Der Puffer von gut zehn Tagen bis zum Abzug erschien ihnen üppig. Die Mutter war überzeugt: "Es ist jetzt 2021, es wird nicht so einfach sein für die Taliban." Doch sie irrte sich.
Taliban erobern Kabul vier Tage vor dem geplanten Rückflug der Familie
Die Taliban erobern die Hauptstadt Kabul am 15. August – vier Tage vor dem geplanten Rückflug der Familie. Am 17. August wagen die drei Hamkars mit Schwiegersohn und den beiden Verwandten aus Australien den Weg zum Flughafen. Es gibt Gedränge, Geschubse. Schüsse fallen und immer wieder sind Peitschenschläge zu hören.
Vor allem die elfjährige Australierin und ihre deutsche Cousine sind verängstigt. "Wir haben geschrien und geweint", erinnert sich Schugufa. Die Hamkars halten ihre Pässe hoch, damit die Soldaten sehen können, dass sie deutsche Staatsbürger sind. Doch der erste Versuch scheitert.
Tags darauf wagen sie es erneut, kämpfen sich wieder durch zum militärischen Flughafen. Die Situation ist nun ein wenig geordneter, der Vater zieht alleine los. Und er findet einen deutschen Bundeswehr-Soldaten, der ihm sofort hilft.
Zusammen bringen sie die restliche Familie über eine Hintertür in die Sperrzone des Flughafens. Dort sind die Menschen feinsäuberlich nach Rückreiseländern getrennt. Die beiden Australierinnen verabschieden sich hinter ein anderes Absperrband. Sie werden ein paar Tage später wohlbehalten in Australien ankommen.
Für Familie Hamkar folgt eine Zeit des bangen Wartens. Sie hören von Toten und Verletzten rund um den Flughafen und schlafen bei 36 Grad in der Sonne auf Kieselsteinen. "Es war ein Albtraum", sagt die Tochter.
Gleichzeitig ist die ganze Familie der Bundeswehr sehr dankbar. Man habe sie immer ausreichend mit Wasser versorgt, auch Essen wurde verteilt. Der Albtraum endet, als sie in das Militärflugzeug nach Taschkent in Usbekistan steigen dürfen. Von dort geht es weiter nach Frankfurt.
Zurück in Großlangheim sind sie am Freitag, 20. August. Schon am Tag danach öffnen sie die Pizzeria wieder. Schnell zurück ins alte Leben wollte vor allem Vater Hadi – und dem Schwiegersohn die neue Heimat zeigen. Denn die drei Hamkars wollten bei ihrer Reise nicht nur Verwandte treffen, sondern auch endlich den Ehemann der Tochter mit nach Hause bringen. Zwei Jahre nach der Hochzeit in Afghanistan. Über dessen Tante in Deutschland sei der Kontakt entstanden, die Liebe trotz der Distanz von 6000 Kilometern gewachsen, erzählt Schugufa. Dem Internet sei Dank. Doch mitbringen durfte sie ihren Mann erst jetzt. Corona hatte die Bürokratie des Familiennachzugs zusätzlich erschwert.
Die Arbeit hält Abdul-Hadi Hamkar vom Grübeln ab
Nun seien sie "erleichtert, aber auch traurig", sagt Mutter Nasrin beim Gespräch in der Gaststätte. Der Betrieb geht weiter wie immer. Pizza Salami für 6 Euro – vor allem das Abhol- und Liefergeschäft läuft gut. So gut, dass sich die Männersportgruppe am üblichen Dienstagabend eine Alternative zur Pizza suchen musste. Der Käse war aus.
Doch Vater Hadi ist froh um die Arbeit. Da bleibt weniger Zeit zum Grübeln. Über das Schicksal eines Landes, zu dem er so viele Fragen hat. Und über das Schicksal ihrer Verwandten, die in Afghanistan vor einer düsteren Zukunft stehen.
Hadis beide Brüder sind Polizisten und haben Repressalien zu befürchten. Der Vater seines Schwiegersohns arbeitete für die Regierung und versteckt sich jeden Tag woanders. Und der Bruder von Mutter Nasrin gehört als Mitarbeiter einer internationalen Organisation zu den sogenannten Ortskräften – und saß bis Redaktionsschluss mit seiner Frau und den fünf Kindern in Afghanistan fest.
Per Videotelefon ins Wohnzimmer nach Kabul
Spontan ruft Nasrin ihn dort am Donnerstag an: Per Videotelefon geht es ins Wohnzimmer nach Kabul. Auf dem Bildschirm taucht ihr Bruder auf und erklärt in perfektem Englisch, dass sie seit zwei Tagen zuhause verharren und auf eine Nachricht der Botschaft warten. Ein Schwenk der Kamera zeigt eine geräumige Wohnung, zwei der Söhne winken lächelnd in die Kamera.
Eigenständig zum Flughafen durchschlagen sei keine Option mit den Kindern. Ihnen bleibe nur die Hoffnung auf die erlösende Information, wie sie Afghanistan verlassen können. Wenig später am Donnerstag verkünden die Deutschen das Ende ihrer Luftbrücke, am Abend reißen Selbstmordattentäter mit Explosionen in Kabul Dutzende Menschen in den Tod.
Bei Familie Hamkar nimmt die Sorge um den Bruder weiter zu. Hoffnung ruht auf den Briten, die am Freitag noch Menschen aus Kabul herausflogen. Eigentlich sei das Ziel egal, sagte Nasrins Bruder noch am Donnerstag während des Videotelefonats: "Hauptsache raus, ganz egal wohin." Ihm war die Angst während des Gesprächs nicht anzumerken, er sprach gefasst. Doch der Eindruck täusche, sagte er: "Wir sind in Panik, aber wir können nichts tun. Wir leben und atmen einfach weiter."