Eine junge Mutter steigt in ihr Auto und holt ihren Sohn vom Fußball ab. Das wäre eigentlich keiner Erwähnung wert, wenn die Mutter nicht Aljona Lydvjuenko wäre, die mit ihren beiden Söhnen Vasily und Iwan und Tochter Maria bis vor wenigen Wochen ein ganz normales Leben in Kiew geführt hat. Jetzt sitzt sie am Esstisch von Joachim Stark in Eltmann und erzählt über Dolmetscherin Daria Opfermann ihre Flucht-Geschichte. Die Oberauracher Ukraine-Hilfe-Gruppe brachte sie nach Unterfranken.
Aljona lebt schon seit sieben Jahren mit ihren Kindern allein, ihr Mann zog damals nach Weißrussland und: "Er steht nicht zur Ukraine", übersetzt Daria. Schon seit Einmarsch der russischen Truppen hatte sich Aljona mit ihren Kindern fast nur noch in ihrer Wohnung aufgehalten. "Als es dann mehr als sieben Luftalarme pro Tag waren und man Schüsse immer näher hören konnte, war klar, dass wir fort müssen", erzählt die 33-Jährige. Sie packte den Laptop ein, Kleidung, Getränke und Essen.
Die Kinder durften ihr Lieblingsbuch, ein Plüschtier und ein bisschen Lego zum Spielen mitnehmen. "Ich war mir nicht sicher, ob wir die ganze Reise mit dem Auto machen können, deshalb haben wir auch Notfall-Rucksäcke gepackt für den Fall, dass wir zu Fuß weiter müssen", erzählt die junge Mutter. Ihr neuer Vermieter Joachim Stark ist beeindruckt von diesem strukturierten Vorgehen in einer Situation, in der bei vielen Menschen wohl eher die Panik vorherrschen würde.
So fuhr Aljona Lydvjuenko immer Richtung Westen. An den Orts- und Stadtgrenzen gab es immer wieder Staus, weil ukrainisches Militär kontrollierte, dass sich nicht russische Kämpfer unter die Flüchtenden mischen. Doch, Angst habe sie schon gehabt, weil sie ja mit ihren Kindern allein unterwegs war. Aber es habe auch Hilfe gegeben. Bei Warschau fand sie dank Ehrenamtlichen eine Übernachtungsmöglichkeit. Dort richtete sich die Familie erst einmal ein und Aljona suchte nach Kontakten, wo sie Arbeit finden und sich auch die Kinder wohlfühlen könnten. Aus einer polnischen Facebook-Gruppe bekam sie einen Link geschickt, der auf einen Bus hinwies, der am Sonntag um 10 Uhr von Warschau nach Deutschland fahren würde. Das war der Bus, der als Folge des Stappenbacher/Eichhorn-Hilfstransports nach Polen gefahren war, um aus dortigen Auffangstationen Menschen nach Deutschland zu holen.
Überwältigende Hilfsbereitschaft in Oberaurach
"Als wir mit dem Hilfskonvoi zurück waren, war uns klar, dass die Polen extrem hilfsbereit sind, aber an ihre Grenzen stoßen", erzählt Roland Baumann, der inzwischen zu einem der wichtigsten Knoten im Oberauracher Netzwerk geworden ist. So gab es in Oberaurach einen Aufruf, Wohnraum an das Rathaus zu melden, denn man wollte nur so viele Familien holen, wie auch dezentral privat untergebracht werden können. Bürgermeister Thomas Sechser zeigte sich überwältigt von dem Zuspruch. Inzwischen leben über 60 ukrainische Kriegsflüchtlinge in der Gemeinde.
Aljona Lydvjuenko nahm also mit diesem Bus aus Deutschland Kontakt auf und durfte sich mit ihrem Auto anschließen. "Man hat sogar auf uns gewartet, denn ich habe nicht gleich den direkten Weg quer durch Warschau gefunden." Als sie langsam müde wurde, fand sich im Bus ein ehrenamtlicher Helfer, der ihr Steuer übernahm. Und so gehörten Aljona und ihre drei Kinder zu den über 60 Menschen, die am Sonntag, 13. März, gegen Mitternacht im Oberaurach-Zentrum (OAZ) in Trossenfurt ankamen, dort mit einer Gulaschsuppe und herzlichen Gesten ihrer Gastgeber empfangen wurden.
Wohnungen und Spenden für die Geflüchteten
Darunter eben auch Joachim Stark. "Meine Mama stammt aus dem Sudetenland, bei ihr kommen zurzeit viele Erinnerungen hoch. Seit einigen Monaten lebt sie im Pflegeheim und eigentlich wollte ich ihre Wohnung nicht vermieten. Aber in dieser Situation war das gar keine Frage", erklärt er. Er ist aber nicht nur Vermieter. Wie alle anderen, die ihre Wohnungen an Rathaus oder Landratsamt gemeldet haben, unterstützt er nach Kräften. Ebenso sein Freundeskreis, der in Windeseile eine kleine Spendenaktion initiierte, denn die ukrainische Währung wird derzeit weder in Deutschland noch in anderen europäischen Ländern umgetauscht.
"Wir waren beim Einwohnermeldeamt, seit heute hat Aljona ein Konto und eine Steuer-ID", denn sie will so schnell wie möglich arbeiten. In der Ukraine hat sie für Stick- und Strickmaschinen in der Textilindustrie Programme geschrieben. Ob sie so schnell auch hier einen Job ihrer Qualifikation findet, ist noch nicht klar. Doch auf die Schnelle könnte sie erstmal auch im Eltmanner griechischen Restaurant anfangen. Wirt Ioannis und seine Frau Olga, ebenfalls Ukrainerin, haben das spontan angeboten. "Wir waren beim Ioannis zum Essen und das wurde dann ein sehr emotionaler Abend", erzählt Joachim Stark.
Online-Unterricht mit Lehrern aus der Ukraine
Auch wenn beim Interview Daria aus dem Ukrainischen übersetzt: Aljona spricht sehr gut Englisch. "Wir verstehen uns gut und den Rest macht die Übersetzungs-App", sagt Joachim Stark. "Die Ukraine ist offenbar ohnehin viel digitaler aufgestellt als Deutschland", meint er. Per QR-Code stehen viele Schulbücher als Download zur Verfügung und Aljonas Kinder haben auch jetzt noch online-Unterricht dank engagierter Lehrkräfte aus der Ukraine. "Fünf Stunden jeden Tag lernen sie am Computer, aber nächste Woche wird Vasily, der Älteste, schon hier an die Realschule gehen". Auch der Elfjährige spricht so gut Englisch, dass Joachim Stark keine Sorge hat, dass er dem Stoff folgen kann. Iwan ist bereits an der Grundschule angemeldet, Maria wird in einigen Tagen sechs.
Daria Opfermann ist sehr bewegt von den Schilderungen Aljonas und auch von manchen Äußerungen der Kinder in den vergangenen Tagen. Sie war schon am 13. März im OAZ dabei. Sie lebt mit ihrem Mann in Wustviel und war 15, als ihre Eltern 2002 der Arbeit wegen nach Stuttgart zogen. Sie machte dort ihr Abitur und lernte nach dem Studium ihren zukünftigen Mann aus dem Steigerwald kennen. Daria ist in der IT in einem Unternehmen im Landkreis beschäftigt.
Sie hat Olga, die Studienfreundin ihrer Mutter, deren Tochter Tanja und ihr Baby Autip zu sich nach Wustviel geholt. Weil die Ferienwohnung, die sie und ihr Mann derzeit ausbauen, noch nicht fertig ist, hat Günther Tioka Unterkunft angeboten. Bei einem Besuch erfuhr hier Bürgermeister Matthias Bäuerlein, dass Olga von der Krim stammt. Dort hatte sie auch noch Grundbesitz. Aber den musste sie nach der Annexion durch Russland abtreten, weil sie nicht bereit war, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen.
Auch in Wustviel war die Hilfsbereitschaft groß. In Oberaurach ist mittlerweile das Netzwerk sehr stark. Zu dem bestehenden "Bürger helfen Bürgern" kamen zwei WhatsApp-Gruppen und über eine digitale Pinnwand werden Informationen ausgetauscht und Kontakte vermittelt. Am Sonntag waren alle Neuankömmlinge und die Unterstützer erneut ins OAZ geladen. Beim "Familientreffen" gab es geballte Information für das tägliche Leben von Schule bis Covid und aus dem Stappenbacher-Spendenkonto konnten 100 Euro Soforthilfe für jeden ausgezahlt werden.
Zusammen essen stärkt das Gemeinschaftsgefühl
Zur Überbrückung bis zur Auszahlung der staatlichen Hilfen hat auch Bürgermeister Thomas Sechser schon aus der Gemeindekasse einen Betrag an alle Ankommenden übergeben. Für die Kinder gab es eine kleine Spielstraße und beim gemeinsamen Mittagessen konnte das Gemeinschaftsgefühl gestärkt werden. Vor allem beim fröhlichen Spiel der Kinder zeigte sich für die Helfer, dass sie sich für das Richtige engagieren, denn "Solche Kinderaugen – erschöpft, müde, traurig, aber auch freudig - wie am 13. März im OAZ habe ich im Leben noch nicht gesehen", sagt Joachim Stark.