Das ist vorerst mein Abschiedsartikel nach meinem dreiwöchigen Ukraine-Einsatz. Ich will von der Geschichte erzählen, die ich Ihnen, den Leserinnen und Lesern, vorenthielt. Für die ich mich schäme, weil ich sie nicht schrieb: Die Geschichte der Witwe Inna und ihrer Familie, die die ganze Tragik des Kriegs in der Ukraine erzählt.
Aus der Ukraine berichte ich seit 2007. Seit 2017 dokumentiere ich den Krieg in der Ostukraine als ein Langzeit-Projekt. Die Redaktionen und Politiker hatten die Schützengräben und Kämpfe im Donbas, die Annexion der Krim weitgehend vergessen oder verdrängt. Heute wissen wir, dass das ein verhängnisvoller Fehler war. Um in diesem Fall als frei arbeitender Journalist und Fotograf eine Reportage veröffentlichen zu können, brauchte es also immer einen äußerst überzeugenden Aufhänger.
Sommer 2019: Der Badeort Schyrokyne im Donbas damals schon Trümmerfeld
2019 stand in Deutschland gerade die Sommersaison an. Die Urlaubsbuchungen liefen. Mein ukrainischer Kollege Oles und ich machten uns auf, um Schyrokyne zu porträtieren. Ein ehemaliger Badeort im Donbas, schon damals nur noch ein Trümmerfeld. Die Schützengräben zogen sich nahe zerstörter Hotels. Dort traf ich den Soldaten Vadym. Wenige Jahre vor dem Krieg hatte er mit seiner Familie hier Urlaub gemacht. Er war bereit, zu erzählen. Vadym und ich kamen gut miteinander klar.
Mein Artikel über ihn und meine Fotos von ihm wurden erst gedruckt, als er bereits tot war. Wenige Tage nach dem Interview war Vadym an der Front ums Leben gekommen. Monate später schrieb mich seine Witwe Inna auf Facebook an. Sie bat mich um ein Foto für den mannshohen Grabstein aus Granit. Vadym sitzt da auf einem Sessel in voller Kampfmontur mitten in der Zerstörung.
Vadyms Enkel trägt jetzt seinen Namen - und der Friedhof steht unter Beschuss
Hätte er die Front überlebt – wenige Monate später wäre Vadym Großvater geworden. Sein Enkel trägt jetzt seinen Namen. Und sein Sohn kämpft gerade in der Armee. Inna setzt in diesem Moment ihr Leben bei Hilfsgüterlieferungen aufs Spiel. Ihr Heimatort steht unter heftigem Beschuss. Auch der Friedhof, in dem der Grabstein steht, sagt Inna. Das ist das Schicksal einer ukrainischen Familie.
Vor der Invasion hatte Inna mich häufig eingeladen. Zuerst kam Corona, dann immer wieder ein anderer Auftrag. Dabei dachte ich oft an die Familie. Vadyms Tod hatte mich sehr getroffen. Bei diesem Einsatz jetzt wollte ich Inna bei einem ihrer Transporte treffen. Es klappte leider nicht. Sie ist wieder in ihrem Heimatort. Einen Besuch ließ die aktuelle Sicherheitslage dort nicht zu. Ob sie das verstehen kann? Bei dem Risiko, das sie selbst jeden Tag trägt?
Wie fühle ich mich als Journalist und Fotograf in einem Land, in dem Krieg herrscht? Vor allem in einem Kriegsland, dessen Menschen mir in vielen Jahren sehr ans Herz gewachsen sind?
Sehr, sehr klein. Denn all die Menschen, die ich porträtiere und interviewe, müssen um so viel tapferer sein als ich. Es gibt in der Ukraine niemanden, dessen Leben am 24. Februar nicht völlig auf den Kopf gestellt wurde. Millionen wurden zur Flucht gezwungen. Ganze Städte entvölkern sich. Leergefegte Straßen, Nächte im Keller: In umkämpften Städten wie Kiew zu leben, ist schwer zu ertragen. Mehr als die Hälfte der Menschen dort hielt es nicht mehr aus.
Als ich mit meinem Kollegen Oles in der Hauptstadt ankam, folgten wir einem Feuerwehrfahrzeug zum nahen Raketeneinschlag. Eine gespenstische schwarze Wolke stieg in den Himmel. Es war nicht der einzige Einschlag, den wir beide zusammen sahen. Ein anderer kam nahe der Autobahn, als wir nach Schytomyr fuhren. Wieder ein anderer an einem weiteren Morgen in Kiew. Wenige Stunden, nachdem wir die Stadt Riwne verlassen hatten, krachte es auch dort.
In Lwiw, meiner "Basis" für diesen Einsatz, hat mittlerweile auch schon eine Rakete ein militärisches Ziel getroffen. Der Tod in der Ukraine kommt aus der Luft, und er kann im ganzen Land zuschlagen. Was für eine Belastung für die Menschen. Was für Ängste müssen Eltern in so einer Zeit um ihre Kinder ausstehen. Sehe ich dann noch die Bilder aus dem zerstörten Mariupol, könnte ich weinen. Es ist unfassbar, dass dies wieder in Europa passiert. Auch nach drei Wochen in der Ukraine kann ich es in seiner Grausamkeit oft nicht voll verstehen.
Eine Traurigkeit im Gesicht, die wie ein Stich ins Herz geht
Viele der Menschen, die ich jetzt traf, kenne ich seit Jahren. Julia, die mit ihrem Hund Santa in Schytomyr im Luftschutz-Keller sitzt. Mit einer Traurigkeit im Gesicht, die wie ein Stich ins Herz geht. Der dauernde Alarm hat sie mürbe gemacht. Auch wenn sie versuchte, es zu verbergen. Es ging einfach nicht mehr. Julia ist seit wenigen Tagen in Deutschland, ihr Mann darf nicht ausreisen. Die beiden vermissen sich unendlich.
Dann sind da die Rotkreuz-Mitarbeiterinnen von einem Projekt in Lwiw, das ich seit Jahren unterstütze. Sie sind selbst voller Sorge. Den alten Menschen, die sie versorgen, geben sie um so mehr Trost. Danach helfen sie oft noch ehrenamtlich mit, wo sie gebraucht werden. Ich habe Vertriebene am Lwiwer Bahnhof getroffen, deren Zukunft nur Unsicherheit bietet.
Was machen sie? Für das Rote Kreuz ehrenamtlich Suppe an gerade ankommende Vertriebene austeilen.
Vertrieben - es ist ein ausgesprochen hässliches Wort. Mein Kumpel Oles ist jetzt ein Vertriebener. Seine Wohnung liegt in einem Viertel in Kiew, in dem es regelmäßig Einschläge gibt. Wir nahmen auf dem Rückweg noch seinen heißgeliebten Plattenspieler, einige seiner Lieblingsscheiben sowie einen schnell zusammengepackten Karton mit Kleidung mit. Als wir das Auto beluden, hörten wir ununterbrochen Artilleriefeuer. Im Block wohnte, soweit wir das sahen, wohl niemand mehr. Eine völlig bizarre Situation.
Dolmetscher Andrew: Schon zum zweiten Mal auf der Flucht
Andrew, mein Dolmetscher in Lwiw, musste zum zweiten Mal fliehen: zuerst von der Krim, dann aus Kyjiw. Seinem gewissenhaften Arbeiten habe ich viel zu verdanken. Zwei Freunde kämpfen in Charkiw. Oles fand es wichtig, dass ich von der Ukraine erzähle, und begleitete mich. Jetzt überlegt er, wie er seinem Land am besten helfen kann. 2014 kämpfte er bereits und wurde für seine Tapferkeit ausgezeichnet. Die Invasion kam, als er frisch verliebt war und einen gut bezahlten Job hatte. Als Oles für sich endlich im Frieden angekommen war. Ich hatte mich sehr für ihn gefreut.
Den Patriotismus fast aller Ukrainerinnen und Ukrainer, die ich während all der Jahre traf, fand ich immer sehr angenehm. Er war offen und tolerant. Er würdigte nicht andere herab. Ich wurde immer als willkommener Gast, nie als Fremder behandelt. Es reichte, etwas Nettes über ukrainische Wareneky, ein Nationalgericht, zu sagen - schon strahlten die Augen des Gegenüber.
Dieses Land ist Teil meines Lebens geworden - es fällt mir schwer, jetzt zu gehen
Für meine Projekte erfuhr ich immer eine herzliche Unterstützung. Das war in diesen drei Wochen nicht anders. So kam es, dass dieses Land Teil meines Lebens wurde. Jetzt kommt meine Heimreise. Es fällt mir unendlich schwer, jetzt zu gehen.
Ich habe als Journalist und Fotograf aus gut 30 Kriegs- und Krisengebieten berichtet. Krieg ist immer eine hässliche Krake, die sich in die Seelen und das Denken frisst. Angst, Furcht, Hass verbreitet. Bitte stehen Sie den Menschen der Ukraine bei. Wollen wir ein friedliches und einiges Europa, bleibt uns gar keine andere Wahl. Bitte, liebe Leserin, lieber Leser, verstehen Sie das.