Dr. Ulrich Goschenhofer aus Hofheim nennt sich selbst einen Verfechter der Digitalisierung und deren Nutzen für die Gesundheitsversorgung. Der 34-Jährige betreibt gemeinsam mit seiner Mutter, Dr. Barbara Goschenhofer, das Hohmedis Hausarztzentrum in Hofheim. Doch die Digitalisierung – oder besser gesagt, die Haken daran – bereiten ihm und einigen seiner Hausarztkolleginnen und -kollegen im Landkreis teils Kopfschmerzen. Konkret geht es um das E-Rezept, das ab 1. Januar 2024 in den Praxen zur Pflicht wird.
Dabei sei die Grundidee überzeugend, berichtet Goschenhofer. Die Hausarztpraxis brauche keinen Ausdruck mehr erstellen, sondern könne das Rezept digital in die Telematikinfrastruktur – eine Art digitale Cloud des Gesundheitswesens – stellen. Die Patientin oder der Patient könne daraufhin die Apotheke seiner oder ihrer Wahl aufsuchen – vor Ort oder auch online – und erhalte dort das Medikament. Ein Gang in die Arztpraxis wäre nicht mehr nötig, so die Theorie.
E-Rezept: Patienten haben drei Möglichkeiten
"Diese Basisidee ist auch erstmal gut umgesetzt. Wir können ein klassisches Kassenrezept digital versenden", sagt der 34-Jährige. Patientinnen und Patienten selbst haben Goschenhofer zufolge drei Möglichkeiten. Erstens: Sie können mit ihrer Versichertenkarte in die Apotheke gehen, sich damit identifizieren, Rezept einlösen und Medikamente abholen – laut Goschenhofer die pragmatischste und bisher gängigste Lösung.
Zweitens: Sie können die E-Rezept-App verwenden. In der Theorie sei das zwar bequem, erklärt der Hofheimer Hausarzt. Dort lasse sich das Rezept einsehen, ebenfalls könne das entsprechende Medikament online bestellt werden. Das Problem: Es dauere, bis hier alles funktioniere, denn die Hürden seien wegen eines langwierigen Identifizierungsprozesses sehr hoch. "Das ist dem geschuldet, dass wir nach wie vor kein bundesweit einheitliches und gut akzeptiertes Identifizierungsverfahren haben", erklärt Goschenhofer.
E-Rezept noch nicht für alle Medikamentenrezepte möglich
Die dritte Möglichkeit: Ein Ausdruck, der in der Praxis erzeugt wird. Davon hält Goschenhofer wenig. "Meiner Meinung nach völliger Unsinn, da man ja dann auch wieder das klassische Rezept verwenden kann." Zwar sei das E-Rezept für eine Arztpraxis, die viele Kassenrezepte erzeugt, erstmal gut und verbessere auch den Patientenfluss. Dennoch sieht Goschenhofer, der an manchen Tagen 200 bis 300 Rezepte ausstelle, hier Probleme. Probleme, die auch die Umsetzung in seiner eigenen Praxis verzögern.
"Braucht ein Patient neben fünf Kassenrezeptmedikamenten auch nur ein Privatrezeptmedikament, so muss er schon einen Ausdruck bekommen", erklärt Goschenhofer dazu. Denn Privatrezepte könnten nicht versendet werden. Die Konsequenz: "Wir überlegen in diesem Zuge dann, ob es nicht mehr Sinn macht, alle Rezepte gleich auszudrucken."
Und: Wer in einem Heim lebt oder nicht mobil ist, werde von der Apotheke beliefert, fährt Goschenhofer fort. Für diese Patientinnen und Patienten greife die Grundidee des E-Rezepts nicht richtig, da sie – anders als Personen, die mobil sind – nicht einfach mit Versichertenkarte in die Apotheke gehen könnten. "Es gibt bisher keine Möglichkeit außer dem Papierrezept, dies zu lösen."
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hatte im Juni dieses Jahres gegen die flächendeckende Einführung des E-Rezepts gestimmt. Wie die KBV im Sommer in einer Pressemitteilung geschrieben hatte, sei es ihr unverständlich, dass Politik und "Gematik" – Gemeint ist die "Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte" – die Umstellung nicht regional gestuft, sondern "auf Biegen und Brechen ab 1. Januar 2024 flächendeckend und verpflichtend einführen wollen." Und auch, weil die Technik für das E-Rezept bis dato noch nicht in allen Apotheken verfügbar gewesen sei. Eine weitere Sorge der KBV: Es bleibt unklar, ob das System standhält, wenn ab Januar alle Arztpraxen E-Rezepte ausstellen.
Die Ausstellung gleiche einem "Flickenteppich"
Auch ein Hausarzt aus dem Eberner Umland erklärt auf Nachfrage der Redaktion, dass es in Sachen E-Rezept noch deutlich Sand im Getriebe gibt. Zwar sei die Ärzteschaft seines Wissens nach mit der Grundlösung zufrieden. Nicht jedoch mit der Umsetzung. Der Arzt, der lieber anonym bleiben möchte, habe in seiner Praxis mehrere Testläufe durchgeführt – circa vor drei Wochen, da es vorher Probleme mit der Technik gegeben habe.
Er berichtet von anfänglich instabilen Geräten, Soft- und Hardwareproblemen. Immerhin: Die Probeläufe hätten dann trotzdem gut geklappt. Und wenn es klappt, dann laufe alles reibungslos. Der Arzt findet die Kombination E-Rezept und Versichertenkarte "geil". Aber auch ihn ärgert es, dass die Ausstellung des E-Rezepts noch nicht in allen Bereichen möglich sei. Laut dem Arzt "gleicht sie einem Flickenteppich".
Dazu kommt, dass sowohl die Ausstellungen von Betäubungsmittelrezepten als auch von Hilfsmittelrezepten – wie beispielsweise Kompressionsstrümpfe oder Diabetikermaterial– nicht möglich sei, berichten Goschenhofer und der Arzt aus dem Eberner Umland gleichermaßen.
Und dann kämen da noch die technischen Hürden, die die beiden teils selbst in der eigenen und in anderen Hausarztpraxen in der Region miterlebt haben. An den Kartenlesegeräten müssten laut Goschenhofer immer wieder PINs eingegeben werden. Werde dieser falsch eingegeben, werde die Karte gesperrt – eine neue müsse her. "Bis dahin ist an E-Anwendungen nicht zu denken", macht Goschenhofer klar. Der Stand der Technik sei locker zehn Jahre veraltet, ärgert er sich.
Ins selbe Horn bläst auch der andere Arzt. "Die 'Gematik' zieht das mit Gewalt durch." Auch Goschenhofer selbst sei so etwas Ähnliches schon passiert. Sein elektronischer Heilberufsausweis wurde ihm mit falscher Ziffernkennung geliert. Doch ohne den Ausweis könne der Arzt keine digitale Unterschrift – und dadurch auch kein Rezept – ausstellen.
"Wenn die Entwicklungen so weiter gehen, wird die Frustration nicht kleiner", findet der 34-Jährige. "Eigentlich möchte ich mich als Experte für Muskel-Faszien-Skelett-Beschwerden dem Wohl der Patienten widmen und sie behandeln."
Ähnlich geht es auch dem Arzt aus dem Eberner Umland. Er fühle sich bevormundet – gleichzeitig aber auch alleine gelassen, berichtet er im Gespräch mit der Redaktion. Infos zu Änderungen kämen spärlich und teils auch recht knapp. Der Hausarzt geht derzeit davon aus, dass es im kommenden Jahr noch eine Übergangszeit geben wird. Denn freilich müssten nicht nur die Arztpraxen in Sachen E-Rezept mitziehen, sondern ebenso die Apotheken.
Testläufe zusammen mit der Apotheke
Ganz gut laufe es in Sachen E-Rezept derweil im Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) für Kinder- und Jugendmedizin Haßberge, berichtet dessen ärztlicher Leiter, Arman Behdjati-Lindner, im Gespräch mit der Redaktion. Zwar fehle auch ihm derzeit noch die Rückmeldung, welche Apotheken bereits alles mitmachen. "Ein paar wollten nicht so gerne", berichtet er. Doch je mehr Arztpraxen das E-Rezept ausstellen, desto mehr seien die Apotheken gezwungen, auf den Zug aufzuspringen, ist er überzeugt.
"Sonst geht der Umsatz verloren, wenn die Leute ihre Rezepte dort nicht einlösen können. Dann gehen sie halt zur nächsten Apotheke." Technisch gesehen funktioniere im MVZ aber alles gut. "Wir machen praktisch Testläufe mit der Apotheke unter uns, um das E-Rezept auszuprobieren. Wir werden das dann, so gut es geht, am 2. Januar umsetzen."
Das Kinder- und Jugend-MVZ setzt weiterhin aufs Papierrezept
Vor zwei Wochen sei das System umgestellt worden. Seitdem könnten der Arzt und seine Kollegen auswählen, ob sie ein E-Rezept samt QR-Code ausdrucken wollen oder ein konventionelles Rezept. Künftig sei dann im MVZ geplant, die E-Rezepte auszudrucken, statt den Weg über die Versichertenkarte zu gehen – aus Aufwands- und Zeitgründen.
"Ich glaube, wenn alle Seiten das E-Rezept umsetzten, wird das funktionieren", wagt Behdjati-Linder den Blick in die Zukunft. Je mehr Möglichkeiten es gebe, desto mehr werden die Leute damit zufrieden sein. "Und dann wird man denke ich einfach gucken, was am Ende dabei herumkommt – und welche Lösung am besten klappt."
Rezeptänderungen könnten komplizierter werden
Deutlich kürzer vor Fristbeginn sind der Hausarzt Dr. Anton Aumüller und seine Mitarbeitenden mit dem E-Rezept in der Hausarztpraxis Zeil gestartet – und zwar am 5. Dezember. "Begonnen haben wir erst jetzt, da die bisherige Praxis gut funktioniert hat und wir nicht unbedingt vorzeitig mit vorauseilendem Gehorsam dabei sein müssen." Eine Einarbeitungsphase von vier Wochen reiche allemal aus, so Aumüller.
Der Hausarzt finde es gut, dass sich Patienten bei Wiederholungsrezepten den Weg in die Praxis sparen können – sieht darin zeitgleich aber auch das Manko, "dass mancher Patient, der nur ein Wiederholungsrezept bestellt, vergisst, seine Versicherungskarte in die Praxis zu bringen." Die Folge: Aumüller und sein Team müssten dem Patienten hinterhertelefonieren. Was also eigentlich Zeit sparen soll, könnte auch das Gegenteil bewirken.
Der Arzt hat außerdem noch eine andere Sorge. Gerade Medikamenten, die immer öfter nicht lieferbar sind, könnten das E-Rezept seiner Meinung nach verkomplizieren: "Rückrufen, stornieren und verändern des Rezeptes hat früher wesentlich besser funktioniert."