Carola Lutsch war gerade auf der Heimfahrt von der Arbeit, als sie über den Dächern von Hofheim einen Storch sah. Für die 59-Jährige war das ein schöner Moment, den sie gleich mit ihrer Handykamera festhalten musste, steht der Klapperstorch doch symbolisch für ihre Arbeit: Carola Lutsch ist Hebamme, und das seit fast vier Jahrzehnten. Ende September jährt es sich zum 40. Mal, dass sie ihre Ausbildung abgeschlossen hat. Seitdem hat sich vieles verändert.
Damals üblich, heute undenkbar
"Der Film ,Die Hebamme' erinnert mich an meine Ausbildung", sagt Lutsch – und das obwohl der Spielfilm weit mehr als 100 Jahre vor der Zeit spielt, in der sie selbst ihre Ausbildung durchlief. Denn seit ihrem Berufseinstieg habe sich so viel verändert, dass die späten 70-er und frühen 80-er Jahre, in denen sie ihren Beruf erlernte, wirken, als würden sie viel weiter zurückliegen. "Du hast gedacht, 1840 spricht mit dir", sagt Carola Lutsch. Einige Dinge, die damals üblich waren, wären heute undenkbar.
Als Beispiel nennt Carola Lutsch den Dammschnitt. Dieser war früher üblich, um die Öffnung zu vergrößern und damit die Dauer einer Geburt zu verkürzen. Heute allerdings stuft es die WHO als unnötig und sogar schädlich ein, diesen Schnitt routinemäßig bei jeder Geburt durchzuführen. Dennoch: Bis vor 30 Jahren sei der Dammschnitt noch vollkommen üblich gewesen. Viele Hebammen hätten allerdings schon vor den Ärzten verstanden, dass dieser mehr schadet als nutzt, weshalb sie ihre Chefs von dem unnötigen Eingriff abzuhalten versuchten. So erinnert sich Carola Lutsch, wie sie und ihre Kolleginnen dazu ihre Hände in den Weg hielten. "Hätte er den Dammschnitt machen wollen, hätte er uns in die Hand schneiden müssen."
Im Sommer kommt der vierte Chefarzt
Lutsch wohnt in Bundorf und arbeitet im Haßfurter Krankenhaus, wo sie mittlerweile die dienstälteste Hebamme ist: Nach der Ausbildung begann sie 1981 in Miltenberg zu arbeiten, 1985 kam sie nach der Geburt ihres ersten eigenen Kindes und einer Babypause nach Haßfurt. Auch viele Ärzte hat sie in dieser Zeit kommen und gehen sehen: Wenn im Sommer Chefarzt Dr. Raphael Kupietz in den Ruhestand geht, wird der neue Chefarzt Muhammad Nayef ihr mittlerweile vierter Chef werden.
Neben der Anstellung bei den Haßberg-Kliniken hat sie mittlerweile freiberuflich ihre eigene Hebammenpraxis in Bundorf, betreut Schwangere, gibt Geburtsvorbereitungskurse und macht die Nachsorge. Mittlerweile habe sie rund 2500 Babys auf die Welt geholfen.
Hebamme für zwei Generationen
Dabei gebe es mittlerweile viele werdende Mütter, die sich Carola Lutsch als Hebamme wünschen, wenn ihr Kind kommt – sei es, weil sie schon bei früheren Geburten gute Erfahrungen mit ihr gemacht haben, oder sei es, weil Lutsch vor vielen Jahren schon bei ihrer eigenen Geburt dabei war. Nach 40 Jahren ist auch das keine Seltenheit mehr; mittlerweile habe es sogar schon den seltenen Fall gegeben, dass sie für drei Generationen der gleichen Familie die Hebamme war.
Und einige Berufsjahre liegen noch vor Carola Lutsch, denn ihren Beruf sieht sie als Berufung, so dass sie bis zum 67. Lebensjahr arbeiten will. Früher aufhören? Wenn ihr nicht irgendein Gesundheitsproblem einen Strich durch die Rechnung macht, sei das für sie keine Option.
Ihr Berufswunsch sei schon immer gewesen, "etwas mit Kindern" zu machen. Auf die Idee, dass gerade die Arbeit als Hebamme das Richtige für sie sein könnte, brachte sie ihre Mutter. Mit 16 machte sie ihr erstes Praktikum und spätestens, nachdem sie bei einer Geburt zugeschaut hatte, war klar, was sie wollte.
Strenge Regeln und Kontrollen
Carola Lutsch stammt aus Bamberg, ihre Ausbildung machte sie dort an der Frauenklinik. "Damals herrschte noch Internatspflicht", berichtet sie, "zwei Mädels pro Zimmer". Und es galten strenge Regeln und Kontrollen. Und: "Die Art und Weise der Geburtshilfe war eine ganz andere."
So klingt es eher nach einer Art von pragmatischer Abfertigung, wenn sie vom damaligen Kreißsaal berichtet. Mehrere Betten, in denen gleichzeitig Geburten stattfinden konnten; lediglich spanische Wände als Sichtschutz hätten die Betten voneinander etwas abgeschirmt. Dass auch ein werdender Vater bei der Geburt dabei ist, war in diesem Umfeld unmöglich. "Es gab einen Alternativkreißsaal, da durfte der Mann mit. Ansonsten war das damals gar nicht üblich", erzählt Carola Lutsch.
Sie erinnert sich auch, wie sie als junge Berufsanfängerin einmal einen 18-jährigen werdenden Vater mit in den Kreißsaal nahm und dafür am folgenden Tag einen Rüffel von ihrer Chefin bekam, wie sie so einem "Büble" so etwas zumuten konnte.
Neue Ideen: Von Homöopathie bis Akupunktur
Dass sie Väter ermutigte, die Geburt mitzuerleben, und dass sie Ärzte am Dammschnitt hinderte sind nur zwei von vielen Geschichten, die zeigen, dass Carola Lutsch immer aufgeschlossen für neue Ideen war und oft die gängige Praxis hinterfragte. Schon in ihrer Ausbildung habe sie von sich aus Bücher gelesen über neue Methoden, wie beispielsweise "Hypnobirthing". Das ist eine Methode, bei der Hypnose die Schmerzen bei der Geburt reduzieren soll. "Wir haben die Homöopathie in den Kreißsaal gebracht", sagt sie. Auch Akupunktur und andere Dinge hätten erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten Einzug in die Geburtshilfe gehalten.
Heute sei alles viel lockerer und freier als während ihrer Ausbildung. Während Wehen und Geburt damals bedeuteten, dass die Frauen lange liegen mussten, können die werdenden Mütter heute herumlaufen, baden oder auch etwas essen. Oft seien es keine neuen Ideen, die die Welt der Geburtshilfe verändern, sondern alte, etwas in Vergessenheit geratene Dinge, die wieder aufleben.
Eine Geburt als schönes Erlebnis
Dabei betont Carola Lutsch: "Als Hebamme macht man ja nichts für sich selbst. Man macht es für die Kinder und für die Frauen." So gehe es nicht mehr nur darum, dass Kind und Mutter die Geburt gut und gesund überstehen. "Es soll als schönes Erlebnis in Erinnerung bleiben." Deshalb habe sie auch den familienorientierten Kreißsaal mit aufgebaut.
Nach mehr als 35 Jahren im Haßfurter Krankenhaus kann die Hebamme berichten, dass sie durchaus häufig von Menschen erkannt und angesprochen wird – immerhin bauen viele Eltern während Vorbereitung, Geburt und Nachsorge auch eine Bindung zu der Frau auf, deren Aufgabe es ist, ihnen durch diese Zeit zu helfen. So werde sie öfter auf der Straße oder beim Einkaufen angesprochen. Einmal, so erinnert sie sich, war sie mit ihrem Mann bei einer Motorradsegnung mit dem Schweinfurter Pfarrer Roland Breitenbach. Als sie ihren Helm abnahm, hörte sie aus der Menge eine Stimme rufen: "Ach Gott, meine Hebamme!"
Keine Kurse in Zeiten der Pandemie
"Natürlich bleiben auch die traurigen Ereignisse in Erinnerung", sagt sie. Wenn ein Kind tot zur Welt kommt oder die Geburt nicht überlebt, gehöre es für sie auch dazu, bei der Beerdigung dabei zu sein und Trost zu spenden.
Und wie hat die Corona-Pandemie ihre Arbeit verändert? Momentan hofft Carola Lutsch vor allem, dass sie bald wieder Vorbereitungskurse anbieten kann. Es mache sich bei den Geburten schon bemerkbar, wenn den Frauen die gewöhnlich hierbei erworbenen Kenntnisse fehlen. In der kurzen, etwas entspannteren Phase zwischen der ersten und der zweiten Pandemie-Welle hatte Carola Lutsch versucht, möglichst viel anzubieten, bevor die Kurse wieder unmöglich wurden. Bei Geburten ist es in Haßfurt trotz der aktuellen Situation möglich, dass der Vater des Kindes oder eine andere nahestehende Person die werdende Mutter begleitet.