
Vor einem Dreivierteljahr wurde Wolfswelpe Nuka in der Rhön gefunden - von Eltern und Geschwistern getrennt, völlig verängstigt und ausgehungert. Die Bad Kissinger Wildtierhelferin Luisa Ruppert päppelte den Findling vorübergehend auf. Nach einem gescheiterten Auswilderungsversuch kam Nuka zu Wolfsexpertin Tanja Askani in den Wildpark Lüneburger Heide.
Askani zog ihn seitdem groß, gewöhnte ihn an den Menschen und bereitete ihn auf ein Leben in einer belgischen Wolfsauffangstation vor. Inzwischen lebt der jugendliche Nuka bei Peter und Leny Lennertz von der "The Wolf Conservation Association" auf einem acht Hektar großen, eingezäunten Gelände. Im Interview erzählt Askani, wie sich Nuka entwickelt hat, warum die Pubertät auch bei Wölfen dazugehört und worauf bei einem Wolfs-Umzug zu achten ist.

Tanja Askani: Im Vergleich zu Hundewelpen wachsen Wolfswelpen deutlich schneller. Im Alter von sechs Monaten erreichen sie fast ihre endgültige Größe. Danach haben sie bis zur Geschlechtsreife, etwa im Alter von 22 Monaten, Zeit, Muskeln aufzubauen und vollständig erwachsen zu werden. Nur einmal im Leben – im ersten Winter – bekommen Wolfswelpen ein extrem dichtes und flauschiges Fell. Obwohl ihre Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist, wirken sie dadurch oft größer als die eigenen Eltern. Die Natur meint es gut mit den jungen Wölfen: Wenn sie die Möglichkeit haben, sich eine schützende Winterspeckschicht anzufressen, tun sie das auch, um gut durch die kalte Jahreszeit zu kommen. Aktuell wiegt Nuka knapp 25 Kilogramm.

Askani: Die Pubertät beginnt erst im kommenden Winter in Verbindung mit der Geschlechtsreife – also mit dem Erwachsenwerden. Wie in einer menschlichen Familie erleichtert dieser Prozess dem unerfahrenen Welpen, sich von den Eltern abzunabeln, auf eigenen Pfoten zu stehen und abzuwandern, um ein eigenes Revier sowie einen Partner oder eine Partnerin zu finden. Gleichzeitig schafft diese natürliche Abwanderung Platz für neue Welpen – jüngere Geschwister. Es ist ein raffinierter Zug der Natur, denn ein räumlich begrenztes Wolfsrevier könnte keine Überpopulation an Wölfen ernähren.
Askani: Aus dem kleinen Nuka ist ein fröhlicher, verspielter und energiegeladener Jugendlicher geworden, der viele Reize und Beschäftigung braucht, um seinen natürlichen Bedürfnissen gerecht zu werden. Fehlen diese Möglichkeiten, kann ein Wolfswelpe verkümmern und sowohl psychische als auch physische Auffälligkeiten entwickeln.

Askani: Nuka kam in unsere Auffangstation, um gesund gepflegt, grundimmunisiert und auf ein Leben mit Menschen vorbereitet zu werden. Für sein zukünftiges Leben unter Menschen war es nicht nötig, ihm das Jagen beizubringen. Er wird von Menschen versorgt.
Askani: Die Priorität lag auf seiner Gesundheit sowie der Gewöhnung an Menschen, Geräusche, Gerüche und Hundegebell und weitere Reize aus der Menschenwelt, um ihm die Angst zu nehmen. Schließlich soll er angstfrei in menschlicher Obhut leben. Da er erst nach seiner Prägungsphase zu uns kam, waren von Anfang an viel Zeit, Einfühlungsvermögen und Erfahrung erforderlich. Doch Nuka fühlte sich offensichtlich überraschend schnell wohl und zeigte sich offen und neugierig.
Askani: Wie alle Wölfe ist er zwar neugierig, aber gleichzeitig – besonders am Anfang – vorsichtig und etwas misstrauisch. Dieses Verhalten steckt in jedem Wolf. Im Laufe der Zeit habe ich Nuka viele Gelegenheiten gegeben, auch andere Menschen kennenzulernen, was für ihn eine wichtige Erfahrung war. Es sollte keine Gewöhnung nur an mich und meine Familie sein. Von Anfang an war klar, dass er auch andere Menschen akzeptieren und in der Lage sein muss, ein vertrauensvolles Verhältnis zu seinen zukünftigen Betreuern aufzubauen.
Askani: Bei Nuka fiel besonders auf, dass er anfangs starke Verlustängste hatte. Die Zeit, in der er ohne Geschwister und Eltern alleine im Wald umherirrte, war für ihn äußerst prägend. Die einzige Möglichkeit, ihm wieder Sicherheit zu geben, war unsere ständige Anwesenheit – rund um die Uhr. Sobald er jedoch Vertrauen zu uns gefasst und die täglichen Abläufe verstanden hatte, unterschied er sich kaum noch von anderen gleichaltrigen Welpen. Allgemein sind wild geborene Wölfe deutlich ursprünglicher, aktiver und intelligenter als Wölfe, die seit Generationen in Gefangenschaft leben.
Askani: Es war nicht vorgesehen und aus Platzgründen auch nicht möglich, Nuka bei uns im Wildpark auf Dauer aufzunehmen. Als ich gefragt wurde, ob ich Nuka aufnehmen könnte, konnte ich das nur bejahen unter der Voraussetzung, dass ich für den kleinen Wolf einen geeigneten Lebensplatz in einer anderen Einrichtung finde. Ich kenne die belgische Wolfsstation und war froh, als ich von dort die Zusicherung bekam, dass Nuka dort leben kann.
Askani: Nuka wurde von mir erfolgreich an Menschen sowie an Abläufe und Routinen gewöhnt, die für seine zukünftige Haltung und Betreuung notwendig sind. Diese intensive Vorbereitung ist entscheidend, damit er seine neuen Pfleger akzeptiert, wenn sie sein Gehege betreten, um beispielsweise Reparaturen durchzuführen, das Gehege zu säubern oder Wasser zu wechseln. Ohne diese Maßnahmen könnte sein Leben in menschlicher Obhut von Angst und Panikattacken geprägt sein, was unbedingt vermieden werden sollte. Idealerweise fasst er so viel Vertrauen, dass er sich bei Bedarf helfen lässt, etwa bei medizinischen Untersuchungen und Behandlungen wie dem Auftragen von Salben oder der Verabreichung von Medikamenten.
Askani: Um Nuka stressarm, ohne Beruhigungsmittel oder gefährliche Narkose transportieren zu können, wurde im Vorfeld wochenlang trainiert. Schon lange vor seiner Reise war er so vertraut mit der Transportbox, dass sie sogar zu seinem bevorzugten Schlafplatz wurde. Dadurch konnten wir ihn problemlos verladen und ihn in der ihm bekannten Transportbox in die Wolfsauffangstation nach Belgien bringen. Die Fahrt dauerte glücklicherweise nur knapp fünf Stunden. Während der gesamten Fahrzeit stand ich in telefonischem Kontakt mit der Transportfirma und war sehr erleichtert zu hören, dass sich Nuka ruhig und entspannt verhielt.

Askani: Für Nuka ist es jetzt eine große Veränderung, aber ich bin zuversichtlich, dass er sich bald gut einlebt. Er ist auf jeden Fall in guten, liebevollen und erfahrenen Händen. Mit dem Betreiber der Auffangstation tauschen wir uns jeden Tag aus. Ich freue mich, dass es täglich kleine Fortschritte gibt. Wildtiere müssen mit viel Verständnis und Geduld behandelt werden. Nuka bekommt so viel Zeit, wie er braucht. Geplant ist, ihn nach einer angemessenen Eingewöhnungszeit mit einer Wölfin zu vergesellschaften.
Es gibt weite Regionen, wo er ungestört leben kann. Die Welt u. Lebensräume ändern sich.