TSCHERNOBYL

Leben und Sterben in Tschernobyl: Oma Walja ist geblieben

Leben und Sterben in Tschernobyl: Auch 30 Jahre nach der Explosion des Atomreaktors darf niemand im Umkreis von 30 Kilometern wohnen. Walentina Borissowna Kucharenko tut es trotzdem. Sie hat ihre Gründe, warum sie sich nicht vertreiben lässt.
Reise nach Tschernobyl / Journey to Chernobyl       -  „Heimat ist alles“: Walentina Borissowna Kucharenko, genannt Oma Walja, in ihrem Haus in Tschernobyl.WILLIAM VEDER
Foto: Foto: | „Heimat ist alles“: Walentina Borissowna Kucharenko, genannt Oma Walja, in ihrem Haus in Tschernobyl.WILLIAM VEDER

Die Fische tauchen als einzelne dunkle Flecken im Kanalwasser auf. Es werden mehr, immer mehr. Karpfen, zu viele, um sie zu zählen. Der Schwarm als Organismus, der stetig wächst. Unkontrollierbar, wild.

Einige hundert Meter weiter erhebt sich zwischen wuchtigen Industrieruinen ein Schornstein aus einem Betonsarg. Tschernobyl. Am 26. April 1986 explodierte Reaktorblock 4. Seither sind unzählige Menschen an den Folgen des Unglücks gestorben, wie viele, weiß keiner. Unbestreitbar aber steht Tschernobyl für die Angst vor radioaktiver Strahlung. Wegen ihr wurde eine Zone 30 Kilometer rund um Reaktor zum Sperrgebiet erklärt, in dem niemand leben darf, eigentlich. Wegen ihr hat seit 30 Jahren niemand die Fische im Kanal behelligt. Dabei gibt es da jemanden, der nichts lieber tun würde.

Oma Walja

Walentina Borissowna Kucharenko ist 77, in Tschernobyl geboren und dort geblieben, als mit Tschernobyl ein Unglück gemeint war. Mit ganzem Namen müsse sie niemand anreden, sagt Kucharenko, als sie an einem warmen Frühlingstag in dicker Fellweste in ihrer Türschwelle auftaucht. „Baba Walja genügt.“ Oma Walja also.

Schwerfällig geht sie ins Haus und setzt sich an den Küchentisch. An den Wänden mit Blümchentapete hängen Landschaftsbilder und ein Kalender. Baba Walja legt die Hände übereinander. „Ich habe für mein Leben gerne geangelt. Jetzt kann ich das nicht mehr.“ Die Katastrophe hat dafür gesorgt, dass es so viel Fisch gibt wie nie zuvor. Aber auch, dass niemand ihn angeln darf. Doch nicht einmal diese bittere Ironie könnte Baba Walja vertreiben.

Immerhin, die Behörden lassen sie mittlerweile in Ruhe. Alle paar Wochen fährt ein Transporter herum und verkauft die nötigsten Lebensmittel, auch Post und die monatlich 90 Euro Rente werden ihr gebracht. Was sie sonst zum Leben braucht, zieht Baba Walja selbst, im Garten hinter dem Haus. „Das Essen aus dieser Erde ist gut“, sagt sie. Wie verseucht ihr Boden ist, weiß sie nicht und will es auch nicht untersuchen lassen. Wer mit einem Geigerzähler durch die Zone geht, stellt fest, dass die Strahlung sich nicht wie ein Teppich über die Erde gelegt hat, sondern fleckenartig. Wie die Fische im Kanalwasser.

Baba Walja geht in den Garten, wo noch keine Kartoffeln und Tomaten wachsen, es ist zu früh im Jahr. Nur ein selbst gezimmerter Duschverschlag steht dort. Es ist still, bis auf ein schrill aufsteigendes metallisches Geräusch, wie ein Fabrikalarm, der alle paar Sekunden ertönt. Es kommt von einer Messstation, die Werte zur Strahlung und zum Wetter erheben soll, aber nicht so recht funktioniert, wie es im Ort heißt.

 

Fast alle Siedler sind alleinstehende Frauen

Samosely, Selbstsiedler, werden jene 180 Menschen genannt, die dauerhaft in der Zone leben. Eigentlich rechtswidrig. Fast alle sind alleinstehende Frauen jenseits der 70. Ihre Geschichten ähneln der von Baba Walja, sie erzählen sie gerne, denn sonst scheint die Zeit in der Zone still zu stehen. Ihre Männer seien vor allem an drei Ursachen gestorben: Strahlung, Suff, Stress. Fehlen würden die Männer manchmal schon. Doch andererseits, wie eines der alten Mütterchen es ausdrückt:„Männer sind anstrengend. Und füttern muss man die ja auch.“

Baba Walja schlendert wieder ins Haus. Sie schaue Nachrichten, sei über aktuelle Ereignisse in der Ukraine informiert und habe dazu eine Meinung. Aus ihrem Schlafzimmer mit den hoch aufgetürmten Decken holt sie eine Musikbox und steckt dort einen USB-Stick hinein, der neonblau leuchtet und in dieser Umgebung einer ins Mittelalter gefallenen Taschenlampe gleicht. Es ertönt eine volkstümliche slawische Melodie.

Am 1. Mai 1986 war die junge Schneiderin Walentina Kucharenko angeln. „Als ich wiederkam, war da ein schwarzes Loch, wo vorher unser Haus war.“ Die Behörden hatten es mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht, mit allem Hab und Gut darin. Verspätet wurde Tschernobyl doch evakuiert, nachdem die Behörden zunächst vertuscht, beschwichtigt, beruhigt hatten. Baba Walja unterdrückt sichtbar Tränen und schaut durch das etwas schiefe Fenster in ihren Garten. „Ich war paralysiert. Wie gelähmt.“

Kampf gegen die sowjetische Nomenklatura

Wenn Baba Walja von früher erzählt, spricht sie über ihren Kampf gegen die sowjetische Nomenklatura, die bisweilen so schwer zu greifen gewesen zu sein scheint wie der unsichtbare Feind, die Strahlung. Die Behörden hätten ihr Haus für „schmutzig“ erklärt, das gängige Zonenwort für „radioaktiv verseucht“, und sie mit ihrem Mann auf offener Straße stehen lassen. Die beiden gingen – und kamen schon nach wenigen Wochen wieder.

Baba Walja und ihr Mann arbeiteten als Liquidatoren, als diejenigen, die das Chaos einzudämmen versuchten. Sie verluden verseuchte Erde, „immer mit dem Spaten in der Hand“. Sie kämpften um Schadenersatz und bekamen schließlich immerhin den Wert ihres Hauses erstattet. Sie zogen in ein neues Haus in der Zone. Illegal.

1988 dann war auch die neue Bleibe weg, diesmal wurde das Haus zugeschüttet. Menschen sollten in Tschernobyl arbeiten, aber heimisch werden durften sie dort nicht mehr. Doch Baba Walja und ihr Mann blieben. Auch als die Behörden ihre Sachen auf die Straße stellten und das Haus vernagelten. Warum nur ist sie so hartnäckig? Baba Walja sagt: „Heimat ist alles. In der Heimat schmeckt der Fisch besser.“

Ihr Mann hatte damals Dienst, als Elektroingenieur im Atommeiler. „Er trank nicht. Das wurde ihm zum Verhängnis. Man muss doch trinken, gegen die Strahlung!“ Sie sagt das in festem Glauben, wie so viele Liquidatoren damals Wodka bekamen, weil dieser angeblich die gesundheitlichen Folgen der Strahlenbelastung mindert. Wie Weltkriegssoldaten, die berauscht auf Schützengräben zulaufen sollten, wurden die Liquidatoren gegen den unsichtbaren Feind losgeschickt.

„Wir sind hier alle Kinder des Krieges.“

Ob es nicht möglich war, diesen Dienst zu verweigern? „So wurde bei uns damals einfach nicht gedacht.“ Dann verzieht sie kurz das Gesicht und sagt: „Wir sind hier alle Kinder des Krieges.“ Welchen Krieges denn: des Zweiten Weltkrieges etwa oder des Krieges gegen die Strahlung, um ihre Heimat Tschernobyl? Baba Walja nickt und winkt dabei ab. Beider Kriege, könnte das heißen.

Gestorben ist Baba Waljas Mann 2008. „Es ist nicht klar, ob es an der Strahlung lag“, sagt sie, und fügt dann leiser hinzu: „Hier ist er gestorben. In der Heimat.“ Es ist ihr persönlicher Sieg über das Schicksal, nicht fortgegangen zu sein. „So viele Mütterchen sind in den Tod gesprungen“, sagt Baba Walja. „Die haben sie in Plattenbauten umgesiedelt. Dabei kannten die Mütterchen aus den Dörfern doch nur das Erdgeschoss.“ Zwei Kinder hat sie, beide leben in verschiedenen Landesteilen der Ukraine. Sie besuchen sie manchmal, die Musikbox haben sie ihr geschenkt. Die Tochter ist 57, ihr Mann ist bereits tot. Krebs. Auch er war Liquidator.

Die Samosely sind nicht die einzigen Menschen in der Zone. In der Stadt Tschernobyl, wo vor dem Unfall etwa 15 000 Menschen lebten, halten sich unter der Woche bis zu 3000 Arbeiter auf. Sie übernachten auch dort, maximal zwei Wochen am Stück. Die Fluktuation sei gewaltig, erzählen die wortkargen Männer, viele rauchend, fast alle in Militäruniformen. Die schwere Arbeit, die Angst um die eigene Gesundheit, die öden Abende, in denen es nichts zu tun gibt, außer doch zur Flasche zu greifen.

Diese Arbeiter sorgen dafür, dass der alte Sarkophag nicht endgültig zusammenbricht, die nach dem Unfall in aller Eile entstandene Schutzhülle, und dafür, dass irgendwann die neue fertig wird, die neben dem havarierten Reaktor gebaut wird und 2017 auf Schienen über den alten Sarkophag geschoben werden soll. Die Fertigstellung wurde oft verschoben. Über zwei Milliarden Euro kostet das Projekt, Deutschland hat 300 Millionen beigesteuert.

Scheinbar hat alles, was mit der größten Nuklearkatastrophe aller Zeiten zu tun hat, eine gewaltige Dimension. Wäre der Unfall nicht passiert, hätten die Sowjets Tschernobyl zum weltweit größten Standort für Atomenergie ausgebaut. So war es geplant, davon zeugen riesige Ruinen, beispielsweise von Reaktorblock 5, der nie ans Netz gegangen ist.

Die Zukunft der Zone ist ungewiss. Mal wollte die ukrainische Regierung dort nuklearen Abfall anderer Länder lagern, für viel Geld. Dann schlug der Zeiger in die entgegengesetzte Richtung aus: ein Naturschutzgebiet sollte entstehen. Nach 30 Jahren, in denen die Zone vom Menschen in Ruhe gelassen wurde, haben sich die Populationen erholt. Es gibt Wölfe und Bären. Und Fische. Viele Fische, die niemand angelt.

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Die Katastrophe von Tschernobyl und die Zahl der Betroffenen

Bei dem bislang schwersten Unfall in einem Atomkraftwerk wurde am 26. April 1986 eine extrem große Menge Radioaktivität freigesetzt.

Insgesamt halfen rund 600 000 „Liquidatoren“, zunächst vor allem Mitarbeiter des Kraftwerks und Feuerwehrleute, die Folgen zu mindern. Die ersten Feuerwehrleute vor Ort trugen keine Schutzkleidung. 134 Arbeiter wurden so stark verstrahlt, dass sie an akuter Strahlenkrankheit litten. 28 von ihnen starben innerhalb von wenigen Tagen und Wochen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass rund 2200 Arbeiter vorzeitig an Strahlenschäden sterben werden. In Modellrechnungen geht die WHO unter den Evakuierten und den Liquidatoren von rund 4000 Todesfällen wegen Strahlenschäden bis in Jahr 2086 aus.

Am 29. April 1986 wurde die Stadt Prypjat mit 50 000 Einwohnern unmittelbar am Kraftwerk geräumt. Bis heute ist sie eine Geisterstadt.

Anfang Mai 1986 begannen die Behörden mit der Räumung aller Orte in einer 30-Kilometer-Sperrzone. Etwa 116 000 Menschen wurden im Laufe des Jahres aus den umliegenden Gebieten in Sicherheit gebracht und umgesiedelt. Insgesamt mussten 400 000 Menschen ihre Heimat verlassen.

 
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