
Am frühen Morgen des 26. April 1986 kommt es im Reaktor 4 des ukrainischen Atomkraftwerkes Tschernobyl zu einer Explosion, der Reaktorkern schmilzt. Wolken tragen Radioaktivität zunächst nach Norden. Dann dreht der Wind, plötzlich gibt es erhöhte Radioaktivität auch in Westdeutschland. „Tschernobyl hat mein Leben verändert“, sagt der Würzburger Nuklearmediziner Professor Christoph Reiners. Denn in den vergangenen drei Jahrzehnten hat der 70-Jährige, der bis Ende vergangenen Jahres Ärztlicher Direktor der Universitätsklinik war, 250 an Schilddrüsenkrebs erkrankte Kinder aus Weißrussland behandelt. Wie erinnert er sich an den Frühsommer 1986?
Frage: Herr Professor Reiners, erinnern Sie sich an den 26. April 1986?
Prof. Christoph Reiners: Da war ich in Würzburg, und es war ein ganz normaler Arbeitstag für alle. Ein Tag ohne besondere Bedeutung und ohne spezifische Erinnerung. Denn dass ein Kernreaktor-Unfall irgendwo in der Sowjetunion passiert ist, hat die russische Nachrichtenagentur Tass erst am 28. April abends herausgegeben. Es kam in den Spätmeldungen der Tagesschau, daran kann ich mich noch erinnern. Es war nicht einmal ein Bericht, die Nachricht wurde vorgelesen.
Die Rede war von einem Unfall in einem Kernkraftwerk in der nördlichen Ukraine und dass man dabei sei, nötige Maßnahmen zu ergreifen. Ziemlich verharmlost in diesem Dreizeiler von der Tass.
Haben Sie da als Nuklearmediziner gleich weitergedacht und das Schlimmste befürchtet?
Reiners: Natürlich, denn die Information war mehr als dürftig. Es war noch die Zeit des Kalten Krieges, die Informationspolitik der Sowjetunion war bewusst restriktiv und Dinge verschweigend. Also hegte man schon die Befürchtung, dass hinter dieser dürren Meldung wesentlich mehr steckt. Dann waren die Folgetage sehr aufregend, weil schon am 28. April in Finnland und Schweden erhöhte Luftradioaktivität gemessen worden war.
Wann wurden die Befürchtungen konkreter?
Reiners: Am 29. April kam die kurze Meldung, dass sich russische Experten bei ausländischen Kollegen Rat eingeholt haben, weil – da wurde der Sachstand deutlicher – es in einem Kernkraftwerk in Tschernobyl in einem Reaktorblock nach einer Explosion zu einem schwer löschbaren Brand gekommen sei. Die angeforderte Hilfeleistung ging interessanterweise nicht um das Abschätzen und Bewältigen von Strahlenfolgen.
Es ging ums Löschen?
Reiners: Tatsächlich war das zunächst das gravierendste Problem. Denn der Reaktorkern hat ja zehn Tage lang gebrannt, wodurch gewaltige Radioaktivitätsmengen bis in die Atmosphäre freigesetzt und über weite Strecken verfrachtet wurden. Am 29. April kamen dann bei uns im Fernsehen auch erste Berichte über eine Evakuierung der Bevölkerung aus der 30-Kilometer-Zone. Das war ein Signal für alle Außenstehenden, die sich auskennen, dass es wirklich der Größte anzunehmende Unfall, der GAU, ist. An diesem Abend ist auch das erste Luftbild von den Trümmern des explodierten Reaktors aus einem Hubschrauber gezeigt wurde. Wie es dort aussah, das war nun wirklich beängstigend. Dass Deutschland irgendwie berührt sein könnte, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht an der Tagesordnung.
Warum?
Reiners: Es hat zwar schon nach zwei Tagen in Skandinavien messbare erhöhte Radioaktivität in der Luft gegeben, in Deutschland aber bis zu den ersten Mai-Tagen nicht. Das lag an der merkwürdigen Wetterlage. Da erinnere ich mich noch sehr genau: Am 1. und 2. Mai war ich in Freiburg auf einer Nuklearmediziner-Tagung, wir hörten aus dem dortigen Institut, dass man radioaktives Jod in der Luft messen konnte.
Parallel wurden vom Physiker der Nuklearmedizin auch in Würzburg erhöhte Werte gemessen. Das hat uns sehr beunruhigt. Das Informationsdefizit von russisch-ukrainischer Seite, was den Unfallhergang betraf, war gravierend und hat für viel Verunsicherung gesorgt. Als klar war, dass Deutschland in irgendeiner Weise Form beteiligt ist, gab es bei uns viele, viele Menschen, auch Wissenschaftler, die Aufregung verursachten. Dadurch, dass sie Messungen interpretierten, Empfehlungen zur Ernährung oder Warnungen herausgaben, ob sie kompetent waren oder nicht. Es fehlte zu Beginn an klaren Ratschlägen, an denen man sich festhalten konnte, das Durcheinander war groß.
Wer wäre denn zuständig gewesen für richtige Ratschläge?
Reiners: Im Prinzip ist es ein klares Thema für die Politik und die beteiligten Ministerien. 1986 gab es noch kein Umweltministerium. Das ist auch eine interessante Konsequenz aus Tschernobyl, es ist erst nachher begründet worden. Die Zuständigkeit für das Katastrophen-Management lag beim Innenministerium. Minister Friedrich Zimmermann gab sich trotz der anfangs lückenhaften Informationslage selbstsicher: Er schloss eine Gefährdung für Deutschland aus.
Er stützte sich aber auch auf die Strahlenschutzkommission als unabhängiges Expertengremium. Die Kollegen dort haben versucht, aus den ihnen zur Verfügung stehenden, spärlichen teils sehr widersprüchlichen Informationen vernünftige Empfehlungen abzuleiten.
Stattdessen gab es Panik vor verseuchtem Salat. Haben Sie damals Gemüse gegessen?
Reiners: Man konnte hier in der Luft und am Boden Radioaktivität messen – in geringen Mengen, aber immerhin. Durch die Hysterie, die entstand, ist man eher übervorsichtig gewesen. Salat hat man aus dem Verkehr gezogen, das ganze Blattgemüse war ja über Wochen nicht verfügbar. Ganz unnötig war das sicher nicht. Die gesamte Milch, die in den Handel kam, musste auf Radioaktivität hin kontrolliert werden. Aus Übervorsicht hielt man mehrere tausend Tonnen kontaminierte Molke über Jahre zurück, bevor sie 1990 fachgerecht entsorgt wurde. Die Konfusionslage war wirklich bedrückend.
Dieses Informationsdefizit: Wusste man vor Ort selbst einfach noch nicht mehr? Oder wurde die Weitergabe von Informationen verhindert?
Reiners: Da kam vor Ort alles zusammen. Die Vorkehrungen auf Notfälle und die Verfügbarkeit von Messgeräten waren völlig unzureichend. Inkompetenz und schlechte Ausrüstung haben sich mit der politischen Absicht des Vertuschens verbunden. In Deutschland ist sehr offen mit den wenigen lückenhaften Informationen umgegangen worden. Mit der Konsequenz, dass in der Bevölkerung der Eindruck entstand: Da kennt sich keiner aus.
Wie lang dauerte diese Verunsicherung?
Reiners: Über Wochen und Monate. Die Empfehlungen und Vorgaben für die Nahrungsmittel haben sich über den ganzen Sommer erstreckt. An der Uniklinik haben wir in der Nuklearmedizin in großem Maßstab Lebensmittelproben gemessen, denn unauffällige Messwerte bedeuten Sicherheit. Zum Beispiel haben wir – da gab es sogar einen Vertrag mit der Uni – einige Jahre für die Firma Kneipp Kräuter und Rohstoffe aus Ostblockstaaten auf Radioaktivität hin kontrolliert. Auch für Produkte, die gar nicht zum Verzehr gedacht waren und wo es nicht vorgeschrieben war. Kneipp war da vorbildlich.
Wo war man unvorsichtig und nachlässig?
Reiners: In den unmittelbar betroffenen Ländern, dort hat es die Bevölkerung ganz anders erlebt. In Weißrussland ist nach einigen Wochen erst, als es viel zu spät war, den Menschen untersagt worden, ihre Datschen und Kleingärten weiter zu bewirtschaften. Gemüse und Obst aus dem eigenen Garten war die Hauptquelle für die Versorgung mit gesunden Nahrungsmitteln in der ehemaligen Sowjetunion. Unter gesundheitlichen Aspekten ist das einer der Hauptgründe dafür, dass sich der Gesundheitszustand in der Ukraine und in Weißrussland in den Folgejahren massiv verschlechtert hat.
Sie sprechen beim Gesundheitszustand jetzt nicht über Strahlenschäden, oder?
Reiners: Nein, ich meine damit indirekte dramatische Folgen des Reaktorunfalls Hinzu kam, dass die Menschen aus ihrer normalen sozialen Umgebung herausgerissen und teilweise bindungslos wurden. Nach dem Zusammenbrechen des politischen Systems stieg die Arbeitslosigkeit, die es in der Sowjetunion vorher angeblich nicht gab, bis auf 30 Prozent und mehr an. Und damit auch der Alkoholismus, der immer schon ein Problem war. Die amerikanische Tabakindustrie hat noch heftig hineingewirkt, indem sie den Markt mit ihren Zigaretten überschwemmte.
Die Lebenserwartung der Bevölkerung ist in den ersten fünf Jahren um fast zehn Prozent von 70 auf 65 Jahre zurückgegangen.
Was konnte man in der Medizin 1986 über Spätfolgen schon sagen?
Reiners: Ein großes Problem war auch später bei der Behandlung der Patienten immer, dass es kaum verlässliche Messungen vor Ort gab und schwer nachzuvollziehen war, welcher Strahlendosis der einzelne wirklich ausgesetzt war. An Schilddrüsenkrebs hat man als Experte sofort gedacht, denn zu den Sofortmaßnahmen im Falle eines „GAU“ gehört neben der Evakuierung und dem Verzicht auf kontaminierte Nahrung die Einnahme von Jodtabletten zum Schutz der Schilddrüse. Diese standen aber damals für die vom Tschernobylunfall unmittelbar Betroffenen nicht zur Verfügung. Konkreter wurde für uns ein wahrscheinlich erhöhtes Risiko für Schilddrüsenkrebs vor allem bei Kindern nach zwei, drei Monaten, als man erste grobe Vorstellungen davon hatte, welchen Strahlendosen die Bevölkerung in den betroffenen Ländern wirklich ausgesetzt war.
Schon nach so kurzer Zeit?
Reiners: Ich hatte mich vorher schon sehr intensiv mit Schilddrüsenkrebs und dem Zusammenhang mit Strahlung beschäftigt. Der Vorsitzende der Strahlenschutzkommission rief mich an und bat um eine Einschätzung. Wir haben die vorhandenen Zahlen angeschaut, und das Ergebnis war für uns klar: Ja, da wird etwas passieren. Schilddrüsenkrebs tritt aber frühestens nach vier, fünf Jahren nach der Strahlenexposition auf.
Und dann kam es genau so?
Reiners: 1991, fünf Jahre danach, kamen erste Meldungen, dass bei Kindern und Jugendlichen häufiger Schilddrüsenkrebs zu beobachten ist. Was mir wichtig ist, und da bin ich in Diskussionen auch um den wesentlich weniger gravierenden Unfall von Fukushima absolut kompromisslos: Man muss die relativ beschränkten direkten Folgen der Strahlung auf die Gesundheit trennen von den indirekten Folgen, die mit gesellschaftlichen Umständen, Verschlechterung der Lebensverhältnisse, psychischer Belastung und ähnlichem zu tun haben. Von den geschätzt 4000 bis 6000 Schilddrüsenkarzinom-Fällen sind nach den bisherigen Berichten höchstens zehn Patienten verstorben. Was damit zu tun hat, dass man diese Erkrankung sehr gut behandeln kann. Die indirekten Folgen sind vom Ausmaß viel, viel gravierender: die Lebenserwartung der Bevölkerung ist zeitweise drastisch zurückgegangen .
Was sind die wichtigsten Lehren, die es aus Tschernobyl zu ziehen galt? Und zog man sie?
Reiners: In Deutschland gab es eine ganze Reihe von wirklich auch weitgreifenden Maßnahmen. Ein eigenes Umwelt-Ministerium, ein Strahlenschutzvorsorgegesetz mit sehr differenzierten Regelungen für Strahlenunfälle, ein groß angelegtes Messsystem mit heute fast 2000 Stationen quer durch Deutschland. Man hat nach meiner Einschätzung viele gute Dinge getan. Wir haben nur ein Problem, das muss ich offen ansprechen, das im Falle einer Katastrophe jedweder Art die Organisation von Hilfsmaßnahmen erschwert: Das ist der Föderalismus. Der Bund gibt nur Rahmenempfehlungen, die Zuständigkeit zur Umsetzung der Maßnahmen liegt bei den Ländern. Und da wird leider der Interpretationsspielraum gelegentlich doch weidlich genutzt.
Aber für den Atomausstieg brauchte es Jahrzehnte später eine zweite Katastrophe.
Reiners: Angesichts des absolut schlechten Sicherheitszustand der Anlage und der menschgemachten Katastrophe war für mich nach Tschernobyl immer das Argument: Das wird in Deutschland nicht passieren. In Fukushima gab es nach deutschem Standard relativ sichere Anlagen. Was mich sehr stark zum Nachdenken gebracht hat: Bei der Sicherheitsauslegung in Japan hat man eine zu geringe Tsunami-Höhe festlegte, obwohl man es aus alten Annalen hätte besser wissen müssen. Absicht, Leichtfertigkeit, was auch immer. Den Faktor Mensch kann man wohl nie als Unsicherheitsfaktor ausschließen. Deswegen fand ich die Entscheidung vernünftig und konsequent.
Tschernobyl 1986: Protokoll einer Katastrophe
25. April, 23.10 Uhr: Die Mannschaft des AKW beginnt, Reaktor Nummer 4 testweise herunterzufahren. Das Experiment war kurz unterbrochen worden, weil aus der Hauptstadt Kiew mehr Strom verlangt worden war.
26. April, 00.28 Uhr: Die Leistung sackt auf unter 30 Megawatt (ein Prozent der Nennleistung) ab. Der Reaktor wird schnell instabil.
01.23 Uhr 30 Sekunden: Die Leistung erhöht sich plötzlich auf über 300 000 MW. Die Temperatur steigt, das Kühlmittel verdampft.
01.23 Uhr 40 Sekunden: Das Personal drückt vergeblich Notfallknopf A3, um die fatale Kettenreaktion zu unterbrechen.
01.23 Uhr 43 Sekunden: Die Brennelemente reißen und reagieren mit dem Wasser. Der Reaktor ist außer Kontrolle.
01.23 Uhr 47 Sekunden: Es kommt zum GAU. Zwei Explosionen zerstören den Meiler, wohl ausgelöst durch riesige Mengen Wasserstoff. Das Dach reißt auf: Radioaktive Partikel steigen auf und verbreiten sich über Europa.