Olena schaut nachdenklich auf die weißen Sandsäcke, die an der Seitenwand der Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale aufgehäuft sind. Ein kleiner Hügel direkt am Durchgang zwischen dem mächtigen Kirchengebäude, Baubeginn 1370, und der Boim-Kapelle, Kleinod der Renaissance. "Diese Stadt ist so wunderschön, dass ich für Augenblicke vergessen kann, warum ich hier bin. Ganz so als wäre ich hier eine Touristin", sagt die 20-Jährige und lacht traurig.
Sie ist nicht für einen Kurzurlaub hier. Die junge Studentin ist vor dem Krieg aus ihrer Heimatstadt Dnipro geflohen. Mathematik hat sie dort studiert. Jetzt ist Ungarn das Ziel. "Meine Mutter ist schon dort. Morgen will ich den Zug bekommen. Ich weiß, wo ich unterkomme. Doch viele auf der Flucht wissen das nicht", sagt sie. Allein in Lwiw sind über 200 000 Menschen in einer Stadt gestrandet, die keine Million Einwohner zählt. Fast 2,5 Millionen Menschen sind schon aus der Ukraine geflohen.
Im UNESCO-Welterbe Lwiw verschmelzen Baustile und Kulturen aus ganz Europa
Auf dem Smartphone hat sie sich schon die Ziele für ihren heutigen Ausflugstag in Lwiw herausgesucht: die stolzen Bürgerhäuser, teilweise aus dem 16. Jahrhundert, am Marktplatz. Dann wären da noch die Armenische Kathedrale aus dem 14. Jahrhundert und die Stavropihija-Kirche aus dem 16. Jahrhundert und natürlich das Opernhaus mit dem mächtigen Boulevard davor. "Ist das nicht verrückt. Ich war noch nie in dieser wunderschönen Stadt, und ausgerechnet jetzt, wo Krieg herrscht, sehe ich sie", sagt sie kopfschüttelnd.
Lwiw, deutsch Lemberg, ist UNESCO-Welterbe. Die Altstadt empfängt den Besucher architektonisch mit einer wohltuenden Leichtigkeit. In Lwiw verschmelzen Baustile und Kulturen aus ganz Europa. Selbst italienische Elemente sind zu finden. Polen, Deutsche, Ukrainer, Juden und Armenier prägten gemeinsam die Geschichte dieser Stadt, in deren Herzen das Rathaus steht. Wenn Olena die Zeit findet, kann sie in das dortige Café, besser ins Kaffeehaus. Die Einrichtung ist eine Reminiszenz an die Zeiten, als die Stadt zum Habsburger-Reich gehörte.
Geschützte Kirchenfenster, bewaffnete Patrouillen und zahlreiche geschlossenen Geschäfte
Olena geht und folgt den Anweisungen ihres Smartphones. Fast alles wirkt friedlich an diesem sonnigen Tag in Lwiw, der Stadt, die bis vor der Invasion ein Touristen-Magnet war. Wären da nicht die mit Kunststoffbahnen abgedeckten Figuren, die mit Metall- und Holzplatten geschützten Kirchenfenster, die bewaffneten Patrouillen und die zahlreichen geschlossenen Geschäfte und Restaurants.
Nicht weit entfernt von der der katholischen Kathedrale schiebt sich knarzend eine Tram aus Sowjetzeiten über die Gleise. Valentyn, Svetlana und Sohn Ivan kreuzen hinter ihr das Kopfsteinpflaster. "Wir kommen gerade aus Kiew", erklärt der Vater. Dort war bis vor wenigen Tagen die Familie zu Hause. Aber Lwiw ist die Geburtsstadt von Valentyn. "Diese Stadt liebe ich mit meinem ganzen Herzen", erklärt er.
Ob er keine Angst hat, dass die Stadt im Krieg zerstört wird? "Nein, soweit werden die Russen nicht kommen. Soweit werden wir sie nicht kommen lassen", ist er sich sicher. Valentyn hat sich schon bei den Territorialen Verteidigungskräften registrieren lassen. "Wenn sie mich brauchen, werde ich da sein und meine Stadt verteidigen. Auch im Häuserkampf. So wertvoll mir Lwiw ist, die Freiheit ist das Kostbarste", erklärt er.
88-jährige Ukrainerin: "Putin, lass uns hier in Frieden leben"
"Möge Gott verhüten, dass unser schönes Lwiw zerstört wird", das sagt die 88-jährige Sofia. Sie lebt mit ihrer sehr stillen und grauschnäuzigen Hündin Alica am Rande der Altstadt. Ein kleines Zimmer und eine Küche, in einem Haus aus Habsburger Zeiten. Die Zimmer sind höher als breit. Über ihrem Bett hängt ein Wandteppich mit Bergpanorama und Hirschen. Neben der Haustür ist ein Marienbild angebracht, dass sie mit gelb-blauen Stoffbändern geschmückt hat.
"Ich habe in meiner Kindheit schon einen Krieg erlebt. Und jetzt sterben wieder Kinder in unserer Ukraine. Putin, ich bitte dich, schick deine russischen Soldaten wieder nach Hause. Dass ist unsere Ukraine. Lass uns hier in Frieden leben", sagt die alte Frau. Sie erzählt davon, wie sie im Fernsehen all die Zerstörung durch Bomben und Raketen sieht. Dann beginnt sie zu weinen.
"Wir Ukrainer bauen uns Stück für Stück unser Land und unsere Demokratie auf"
Für Nazar lief es vor der Invasion richtig gut. Lwiw ist ein regelrechter IT-Hub von internationaler Größe. Und der 28-Jährige hatte einen gut bezahlten Job. "Wir Ukrainer bauen uns Stück für Stück unser Land und unsere Demokratie auf. Das wird Putin wohl auch gestört haben", sagt der junge Mann. Jetzt trägt Nazar Olivgrün und gehört zu den Territorialen Verteidigungskräften der Stadt. "Um die Wahrheit zu sagen: ich hatte nicht geglaubt, dass es zu dieser Invasion kommt. Druck und Drohgebärden waren wir von Putin gewohnt. Nun ist es passiert. Und er hat sich gründlich verrechnet", sagt der Soldat.
Nazar ist stolz auf die Armee. "Unsere Soldaten kämpfen tapfer, und unsere Menschen stehen zusammen. Unbewaffnete Zivilsten stellen sich vor russische Panzer. Das gibt mir viel Mut", erklärt er. Für den Präsidenten Wolodymyr Selenskyi hat er viel Lob übrig. "Er ist jetzt in sein Amt gewachsen, ich hätte ihm das nicht zugetraut", sagt er.
Lwiw gehörte zu den wenigen Städten, in den Selenskyi damals keine Mehrheit bei den Wahlen fand. Nazar ist sich sicher, die Ukraine wird diesen Krieg gewinnen. "Fast die ganze Welt steht auf unserer Seite. Ich freue mich über die Kameraden, die zum Internationalen Bataillon stoßen", fügt er hinzu. "Aber wir brauchen unbedingt weiter Waffen, ein noch schärferes Embargo", fordert er.
"Kein russischer Soldat wird es bis nach Lwiw schaffen. Und wenn, werden wir diese Stadt verteidigen", erklärt er. Er sieht vor allem eine andere Gefahr: dass es in Lwiw zu Zerstörungen kommen kann. Auch die UNESCO erinnert aus gleichen Grund besorgt an den besonderen Schutz der ukrainischen Welterbestätten wie Lwiw. "Putin ist völlig außer Kontrolle. Er lässt Krankenhäuser und zivile Wohnviertel mit Artillerie und Raketen beschießen. Vor so einem Wahnsinn ist auch das Welterbe von Lwiw nicht sicher. Es ist neben der Leben der Bewohner ein unermesslicher kultureller Schatz, der dann in Gefahr wäre", sagt Nazar nachdenklich. "Der Luftraum über der Ukraine muss geschlossen werden. Steht an unserer Seite. Bitte sagen Sie das Ihren Leserinnen und Lesern", erklärt der 28-Jährige.
In einer der Fußgängerzonen, die zum Herzen der Stadt führt, steht Juriy mit seinem Saxophon. Das hat offensichtlich schon einiges erlebt. Der Musiker lässt das alte Partisanen-Lied "Bella Ciao" erklingen. "Ich bin Künstler und leider als Soldat wenig tauglich. Aber das Instrument ist meine Kalaschnikow. Und ich hoffe, ich kann den Menschen Mut machen", sagt der Mann mit dem Saxophon. Eine halbe Stunden später heulen wieder einmal die Sirenen über der Stadt. Zum Glück gibt es keinen Angriff aus der Luft.