Die folgenden Zeilen sollen einer bewussten Mediennutzung dienen. Sie gelten also auch für Beiträge dieser Redaktion. Denn die Welt ist in den Berichten nicht gleichermaßen wahrzunehmen. Eine Rolle spielt seit jeher der Faktor Nähe. Gehen Journalisten doch davon aus, dass es ein deutlich stärkeres Interesse an wichtigen Ereignissen gibt, die uns vor allem geographisch näher kommen.
Das gilt für alle Medien, in besonderem Maße aber für lokale und regionale. Untersuchungen haben das schon sichtbar gemacht. Man darf das durchaus an Jahresrückblicken dieser Redaktion auf 2022 festmachen, hier auch von A bis Z zusammengetragen.
Vernachlässigter sogenannter "Globaler Süden"
Eine aktuelle Studie der drei Universitäten Mannheim, Frankfurt und Heidelberg trägt den Titel "Vergessene Welten und blinde Flecken". Sie weist mittels Jahresrückblicken überregionaler Medien auf 2022 beispielhaft die Vernachlässigung des uns fernen sogenannten "Globalen Südens" nach.
Dr. Ladislaus Ludescher von der Goethe-Universität Frankfurt stellt unter der Überschrift "der getrübte Rückblick" die Studie beim Europäischen Journalismus Observatorium vor, das ich hier als Quelle nutze. Sie zeigt, dass 2022 Medien bei uns oft den Begriff "Zeitenwende" aufgriffen, der zum Wort des Jahres wurde. Das ist eine Beschreibung des dominierenden Themas, des Krieges in der Ukraine samt seiner Auswirkungen.
Eine weitere Erkenntnis lautet: Es wird über den "Globalen Süden" sehr wenig berichtet - und wenn doch, dann meist negativ.
Elf Prozent Umfang für 85 Prozent der Weltbevölkerung
Wenig bis keine Beachtung fanden aber Krisen und Katastrophen im "Globalen Süden", wo circa 85 Prozent der Weltbevölkerung leben. Auf sie entfielen im Durchschnitt lediglich etwa 11 Prozent des Gesamtumfangs der Rückblicke aus 13 untersuchten Medien. Ausgewertet wurden dafür zehn deutsche und zwei österreichische Medien sowie ein US-Medium. Davon sechs aus dem Bereich Print (Kronen Zeitung, View, Spiegel Chronik, Stern Sonderheft, profil und TIME), fünf aus TV (ARD, ZDF mit Markus Lanz und Album 2022, RTL, SAT.1), ein Radiosender (BR2-radioWelt) und ein Online-Medium (FAZ–Podcast Deutschland).
In der Studie heißt es unter anderem: In der ARD-Tagesschau sei in der ersten Jahreshälfte 2022 über die britische Königsfamilie umfangreicher berichtet worden als über den globalen Hunger - und über den Sport mehr als über den gesamten "Globalen Süden". Ich fürchte, das gilt nicht nur für die Tagesschau.
Die am stärksten vernachlässigten Krisen und Katastrophen
Ein Gegengewicht schafft da die Perspektive der Hilfsorganisation Care. Sie zeichnete 2022 wie alljährlich wieder die zehn am stärksten vernachlässigten humanitären Krisen und Katastrophen auf, erstmals alle in Afrika: Angolas schlimmste Dürre seit 40 Jahren, Hunger in Malawi (mehr als ein Drittel der Kinder sind mangelernährt) und der stets neu aufflammende Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik. Das Stichwort: Vergessene Krisen.
828 Millionen hungernde Menschen kaum thematisiert
Abseits von Afrika wurden ebenfalls vernachlässigt: Gewalt und humanitäre Krise in Haiti oder landesweiter Notstand in Peru. Dass die Zahl der Malaria-Toten laut Weltgesundheitsorganisation WHO bei 619.000 lag, fand sich in den Medien ebenso nur am Rande wie die Jahrhundertflut in Pakistan (1700 Tote und ca. 33 Millionen Obdachlose), der Bürgerkrieg in Tigray/Äthiopien (seit 2020 mehrere Hunderttausend Tote und über 2 Millionen Vertriebene). Kaum thematisiert auch dies: Laut UN-Welternährungsbericht stieg die Zahl hungernder Menschen auf etwa 828 Millionen.
Globales Wissen, bedeutend für Verbesserungen
Die medialen Vernachlässigen können politische Folgen haben. Ludescher bezeichnet sie als bedauerlich, da globales Wissen eine bedeutende Voraussetzung für Entscheidungen zur Verbesserung sei. Ich füge hinzu, wer an einem Diskurs zu politischen oder sozialen Themen teilnimmt, sollte auch bei seiner eigenen Meinungsbildung blinde Flecken der Wahrnehmung nicht übersehen. Das ist gerade für Beiträge in Leserforen zu empfehlen.
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
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