Eine Journalistin versuche, subtil Meinung zu machen, kritisiert Leser R.B. den Samstagsbrief vom 20. November an Professor Klaus Überla, Mitglied der Ständigen Impfkommission. Überla, so R.B., werde vordergründig für seine Meinung zu Lockdown-Maßnahmen gelobt, aber eigentlich fordere die Autorin schärfere Maßnahmen. Die begründe sie mit stark übertriebenen Horrorszenarien, meint R.B..
Selbst schreibe die Autorin aber auch, stellt der Leser fest, wie verheerend sich ein Lockdown auf die Psyche, auf Existenzgrundlagen auswirken oder zu Isolation und Depressionen führen könne; ebenso zurSchwächung der Wirtschaft, der Grundlage für aller Wohlstand.
R.B. hält jedenfalls fest, es sei Aufgabe einer Tageszeitung "differenziert und möglichst ausgewogen zu berichten" und nicht in solchen Briefen "Meinungsmache" zu betreiben und die Stimmung anzuheizen.
Der Vorwurf und der Begriff "Meinungsmache"
Im Begriff "Meinungsmache", den Medien-Kritiker gerne nutzen, steckt der Vorwurf, es würde versucht, die Meinung anderer zu beeinflussen. Im schlimmsten Fall geschieht das manipulierend, etwa mit gezielt einseitigen Begründungen. Das gibt der in einem Samstagsbrief vertretenen Meinung allerdings zu viel Gewicht innerhalb der vielen anderen Veröffentlichungen. Solche Einflussnahme erkenne ich im angesprochenen Beitrag ohnehin nicht. Sogar Herr R.B. selbst greift doch in seiner Kritik die Gegenargumente auf, die von der Autorin selbst genannt worden sind und gegen ihre eigene Meinung stehen können.
Grundsätzlich nehme ich häufig wahr, dass Leser es ablehnen, wenn Journalisten nicht nur berichten, sondern auch kommentieren. Meist natürlich dann, wenn sie andere Meinungen vertreten. Dahinter steckt die Befürchtung, dass sich davon nun die Leserschaft zu großen Teilen überzeugen lasse. Die ist bekanntlich unbegründet.
Bekenntnis der Autorin zum Lockdown
Richtig ist, eine Autorin hat sich im Samstagsbrief schon in der Überschrift zu einem Lockdown bekannt. Das darf sie. Liegt doch das begründete Bewerten und das Äußern einer Meinung ganz im Sinne der schon im Kopf mit "Meinung" gekennzeichneten Seite 2 der Zeitung.
Der Samstagsbrief enthält stets Werturteile, verfasst in Briefform und verschickt an die jeweiligen Adressatinnen und Adressaten. Die Redaktion erklärt dabei die ungewöhnliche Stilform, die persönliche, direkte und pointierte Formulierungen zulässt. Der Brief dürfe emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse geschrieben sein. Er lade ein zur Debatte. Was übrigens für alle Kommentare gilt.
Die Beschreibung des Samstagsbriefes ist allerdings regelmäßig nur seiner Online-Fassung beigefügt. Printleser wie R.B. sehen sie nicht.
Die erwünschte Debatte
Der redaktionell erwünschten Debatte ordne ich nun die Kritik von R.B. zu. Die liegt im Sinne von Tageszeitungen, die zum demokratischen Diskurs beitragen und Markt der Meinungen sein sollen. Dabei muss veröffentlichte Kritik nicht unbedingt sachlich vorgetragen werden, sondern darf auch "pointiert, polemisch und überspitzt" erfolgen. Das hat sogar das Bundesverfassungsgericht schon erlaubt. Auch Einseitigkeit ist nicht verboten, aber nicht gerade im Sinne eines glaubwürdigen Journalismus. Wenn also Journalisten selbst Spielräume nicht immer grenzwertig ausreizen, ist das verständlich, dient dazu einem funktionierenden Diskurs und erhöht die Medienmündigkeit.
Der Wert anderer Argumente
Ereignisse aus Gesellschaft und Politik zu bewerten, gehört jedenfalls unabdingbar zum Journalismus, ebenso wie die von R.B. geforderte differenzierte und ausgewogene Berichterstattung. Dabei sollten gerade Journalisten ihre Meinungen nur auf Argumente stützen, die auf erwiesenen Tatsachen gründen.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
Frühere ähnliche Leseranwalt-Kolumnen:
Sept. 2021: "Gedanken zum Einfluss von Zeitungen auf Wählerinnen und Wähler"
Feb. 2021: "'Eingleisige Sätze' gehören in einen Kommentar"
Jan. 2021: "Störungen des demokratischen Diskurses"
Glauben Sie mir, auch Meinungsbeiträge sind eine der journalistischen Kernaufgaben.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Wenn wie kürzlich erst in einem Kommentar einer Mainpost-Journalistin die Schuld am derzeitigen Zustand "einzig den Ungeimpften" angelastet wird, dann ist das höchst grenzwertig, ja genaugenommen sogar schon Hetze gegen eine Minderheit.
Der Frust sitzt bei allen tief, dass die Situation schlimmer ist, als vor einem Jahr und sicher würde eine höhere Impfquote die Belastung von Intensivstation lindern, wenn sich Journalisten aber derart ereifern, dann haben sie sich einer - in diesem Fall sicher guten Sache - zu sehr gemein gemacht. Das befriedet nicht, das spaltet. Solche "journalistischen Bekenntnisse" sind der Sache nicht dienlich.