"Es sind die EU und die NATO, nicht Russland, die diese paneuropäische Bedrohungslage konstruieren und mittlerweile provozieren, eine nach außen immer aggressivere EU und eine expansive NATO, die dreizehnmal mehr für Rüstung ausgibt als Russland." Diese Zeilen enthielt ein Leserbrief zum Ukraine-Krieg, der die Redaktion erreichte. Die Zuschrift wurde auch veröffentlicht - aber ohne diesen Satz. Die Redaktion hatte ihn gestrichen. Warum? Das fragt sich die Einsenderin, die von mir als Leseranwältin eine Erklärung erbat.
Einen Verdacht hatte die Schreiberin schon: Der gestrichene Satz habe eine Meinung enthalten, die der Redaktion nicht genehm war. Die Verfasserin ist mit ihrem Verdacht nicht allein. Regelmäßig werfen uns Leserinnen oder Leser vor, wir würden Meinungen unterdrücken oder zensieren, wenn unbequeme, provokante Zuschriften nicht veröffentlicht werden.
Die Unterscheidung zwischen Meinung und Tatsache ist bedeutsam
Ich gebe zu, dass mich solche Vorwürfe treffen. Unser Berufsstand weiß das Grundrecht der Meinungs- und Pressefreiheit hinter sich. Für Journalistinnen und Journalisten stützt sich eine ganze Reihe von Sonderrechten darauf. Sollten wir also nicht in besonderem Maß auch die Meinungsfreiheit anderer achten? Ja, das sollten wir. Trotzdem kommt es vor, dass Leserbriefe mit legitimen Meinungen nicht erscheinen. Warum passiert das?
Weil eine Meinungsäußerung von einer Tatsachenbehauptung nicht immer leicht zu unterscheiden ist. Diese Unterscheidung ist aber wichtig, weil die Redaktion presserechtlich für von ihr veröffentlichte Leserbriefe in gewissem Umfang verantwortlich ist. Wird darin zu Straftaten aufgerufen, wird jemand beleidigt oder durch Falschbehauptungen beeinträchtigt, können Medien zur Verantwortung gezogen werden. Deshalb werden Leserbriefe genau geprüft. Die Kolleginnen und Kollegen, die das machen, tragen viel Verantwortung.
Wie aber identifiziert man falsche oder unzulässige Tatsachenbehauptungen und legitime Meinungsäußerungen?
Leserinnen und Leser können Meinungen selbst einordnen
Im eingangs erwähnten Satz aus dem Leserbrief ist die Passage über die Rüstungsausgaben eine Tatsachenbehauptung. Den Wahrheitsgehalt solcher Behauptungen nachprüfen kann die Redaktion wegen des erheblichen zeitlichen Aufwands nur in einem gewissen Umfang. Wenn sich verschiedene Quellen widersprechen oder vertrauenswürdige Quellen gar nicht erst aufzufinden sind, druckt die Redaktion solche Aussagen nicht ab. Es ist daher zu empfehlen, einer Zuschrift Quellen beizufügen.
Was aber ist mit dem ersten Satzteil? Konstruieren, ja provozieren NATO und EU und nicht etwa Russland eine paneuropäische Bedrohungslage? Das Handeln der politischen Akteure lässt ich so, aber auch ganz anders deuten. Doch eigene Deutungen sind kein Beweis für eine These. Die hier infrage stehende Äußerung ist deshalb nicht als Tatsachenbehauptung, sondern als Meinung einzuordnen. Eine zulässige obendrein, weil frei von Beleidigungen oder Hetze. Im Nachhinein betrachtet hätten wir diesen Satzteil abdrucken können.
Beiträge zur Meinungsbildung, zur Vielfalt, zum Diskurs sind hilfreich
Wir wollen ein breites Spektrum an Meinungen in unseren Leserbriefen zulassen. Die richtige Einordnung von Meinung und Tatsache aber ist, das betone ich nochmals, schwierig. Zu guten Ergebnissen kommen wir am besten, wenn wir uns im Kollegenkreis über schwierige Zuschriften austauschen. Das wollen wir in Zukunft noch öfter und intensiver tun als bisher. Denn einen hilfreichen Beitrag zur Meinungsbildung, zur Vielfalt und zum Diskurs, leisten nicht nur Wortmeldungen, denen ein Redakteur oder eine Redakteurin inhaltlich beipflichten kann.
Welcher Meinung sie zustimmen, dürfen und wollen wir unseren Leserinnen und Lesern selbst überlassen.
sicher haben Sie mich nicht vergessen und ich darf noch auf eine Antwort zu meiner Frage bezüglich Transparenz hoffen.
Ich danke Ihnen sehr
Viele Grüße
Claudia Schuhmann
Leseranwältin
mit Interesse lese ich, daß es Ihnen bei der Einschätzung der Leserreaktionen zunächst mal um Transparenz geht. Doch auch um eine Transparenz für den Leser, daß er Themen, die ihm auf den Nägeln brennen, auch im Leserforum zufriedenstellend behandelt sieht und sich beteiligen kann? Ist das so?
Nur meine Erfahrung zeigt, daß es Tabuthemen gibt, bei der eine Leserbeteligung gar nicht gewollt ist.
Stichwort: große Turbulenzen in der Presselandschaft und Umstellung von Print auf Digital. Weil zu diesem Thema in der Printpresse so gut wie nichts zu finden war und ist habe ich das Abschiedsinterview mit David Brandstätter Dez. 23 zum Anlaß genommen und eine Stellungnahme als Leserbrief eingereicht. Diese ist nicht erschienen. Nach langem Ringen mit Ivo Knahn, Chefredakteur wurde im Januar eine gemeinsam abgestimmte Fassung doch veröffentlicht. Das war die erste und letzte Lesermeinung, die ich bis heute im Print gefunden habe.
So viel zuTransparenz u. Leserbeteiligung
Eine Frage an die Redaktion: warum ist mein Beitrag von heute 0:10 Uhr noch nicht hier erschienen? Und ob der jetzt erscheint? Warten wirs ab! Doch sicher oder? Ich wäre auch schom mit einer persönlichen Antwort an paul.zeitler@gmx.de angetan. Vielen Dank!
Es hat sich viel verändert in der lokalen Presselandschaft seit die Mainpost von Augsburg gesteuert ist und sich mitten in der Umstellung von Printpresse in Epaper befindet. Wir alle wissen wovon die Rede ist und was an Veränderung damit zusammen hängt. Da ist das Empfinden der Meinungszurückhaltung sicherlich kein Trugschluß...
Die Frage ist nur, wie reagiert man auf die eklatante Veränderung unserer Tageszeitung in den letzten 10 Jahren? Was tun, wenn in den nächsten Wochen wieder eine Preiserhöhung verkündet wird und vor allem, wenn man uns Printleser so in das Epaper zwingen will?
Wenn ich also meinen Kommentar hier morgen nicht vollständig oder gar überhaupt nicht finden kann... es wäre keine Überraschung für mich und auch nicht das erste Mal!
Ich sage ganz ehrlich: Mir wäre es lieber, wenn mein Kommentar ganz gestrichen werden würde, als wenn er verkürzt und damit verfälscht widergegeben werden würde. Das geht wirklich gar nicht. Denn es kann sein, dass sich dann der gesamte Sinngehalt des ganzen Kommentars verschiebt. Eine Möglichkeit zur Klarstellung hat man dann aber eben nicht mehr.
Das prekäre ist, dass sie meist eine Quelle zu ihren Kommentaren anfügte. Also alles "Regelgerecht" war. Da muss man doch glatt davon ausgehen, dass es die Meinung selbst ist, die der MP nicht gefiel.
Auffallend ist auch, dass der geneigte Schreiber in einer Online-Plattform oftmals seinen eigenen Kommentar findet - andere Leser hingegen nicht. Schon sehr interessant, wie man mit seinen Lesern umgeht.
leider tappe ich im Dunkeln, was das "bestimmte Online-Medium" angeht. Haben Sie dazu nähere Informationen? Dann gehe ich der Sache gerne nach.
Viele Grüße
Claudia Schuhmann
Leseranwältin
Sie haben Recht, beim Thema Online-Kommentare stellen sich oft die gleichen oder ähnliche Fragen - aber nicht nur. Sie können mir gerne unter leseranwalt@mainpost.de schreiben, dann können wir uns im Detail über Ihre Fragen austauschen.
Viele Grüße
Claudia Schuhmann
Leseranwältin
Vielen Dank für die aufklärende Stellungnahme.
Leider vergessen Sie bzw. Die Redaktion oftmals den Umstand, dass Leserbriefschreibende eigene Wahrnehmungen und Erfahrungen wiedergeben. Dies betrifft auch Überlieferungen von Oma und Opa, die nicht allein dadurch unwahr werde , dass sie " nicht unabhängig überprüft" werden können.
Wenn sich jedoch die Zeitung solche Vorgaben gibt, darf man die Frage stellen weshalb sich dann Redakteure dieser Zeitung sich in eigenen Artikeln oder in der Wiedergabe der Aussagen bestimmter Personen nicht selbst darauf halten.
Zu bemängeln ist auch dass Zuschriften zumeist eben nicht "beschnitten" bzw. gekürzt abgedruckt, sondern schlichtweg gelöscht werden.
Viele Behauptungen können und werden oft mit Quellangaben belegt, was bei eigenen Wahrnehmungen nicht möglich ist. Hieran sollte man vor einer "Zensur" gleichwohl denken.
wenn eine Aussage als eigene Wahrnehmung oder Meinung gekennzeichnet ist, wird sie in der Regel veröffentlicht. Im Beispiel erklärt die Leseranwältin, dass der erste Teil des Beitrages dementsprechend veröffentlicht werden könne.
Mit freundlichen Grüßen
Silke Albrecht
Digitalmanagement
Zum anderen sind es die sich ausschließenden Argumente, die etwas schlechte mit etwas anderem schlechten vergleichen.
Es kommt wie immer auf die Dosis an und hier generalisieren Sie!