
Die Angst sei sehr groß, die Bedrohung massiv, sagt Elisabeth Kirchner, psychologische Psychotherapeutin bei Wildwasser Würzburg. Dennoch trauen sich laut Kirchner jedes Jahr einige wenige Frauen mit ritueller und/oder organisierter Gewalterfahrung in die Fachberatungsstelle. Der Verein gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen führt jährlich bis zu sieben Beratungen zu rituellen Gewalterfahrungen durch; 2020 waren es fünf Frauen, die sich deswegen an Wildwasser gewandt haben.
"Viele wissen nicht, was es damit auf sich hat", sagt Kirchner. "Bekannt" sei sexueller Missbrauch. Rituelle Gewalt dagegen nicht. In Fachkreisen wird dieses Thema kontrovers betrachtet. Jüngst sorgte der Vorwurf eines ehemaligen Heimkindes der Wickenmayerschen Kinderpflege in Würzburg für Diskussionen. Es gibt viele Skeptiker, die den Wahrheitsgehalt der Schilderungen von Betroffenen anzweifeln.
Elisabeth Kirchner sieht den Grund dafür auch darin, dass es für die Betroffenen Versorgungslücken gibt. Bis Ende 2022 sollen sie durch das Projekt "Hilfen für Frauen und Mädchen mit komplexen Gewalterfahrungen" zumindest teilweise geschlossen werden. Das Projekt gehört zum Bundesinnovationsprogramm "Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen". Wildwasser Würzburg hat sich beworben und den Zuschlag erhalten.
Elisabeth Kirchner: Der Ansatz musste innovativ sein. Deshalb haben wir ein Thema aufgegriffen, das noch viel Öffentlichkeit und Bearbeitung bedarf: die Versorgung von Frauen, die von seelischer Behinderung bedroht sind und/oder massive Gewalterfahrungen über mehrere Jahre oder durch verschiedene Täter hatten.
Kirchner: Bei der organisierten sexuellen Gewalt geht es um viel Geld und darum, Bedürfnisse nach Macht und Erniedrigung zu befriedigen – zunächst nicht um eine Weltanschauung. So werden bei sogenannter Kinderpornografie Folterungen gefilmt und im Darknet angeboten. Dafür gibt es einen großen Markt. Hinter ritueller Gewalt steht dagegen eine Ideologie.

Kirchner: Das können religiöse Überzeugungen sein, faschistisches Gedankengut oder auch Satanismus. Die Kurzdefinition lautet: Rituelle Gewalt ist die gezielte systematische Anwendung schwerer körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt in destruktiven Gruppierungen und Netzwerken. Es gibt Verbindungen zur Organisierten Kriminalität, zu kommerzieller sexueller Ausbeutung sowie ein Schweigegebot. Ausstiegswillige werden unter Druck gesetzt, erpresst und verfolgt.
Kirchner: Bei beiden Gewaltformen werden Kinder dazu gezwungen, Handlungen auszuüben, die sie normalerweise niemals ausüben würden. Sie werden durch bestimmte Strategien dazu gezwungen. Diese kennen wir auch von Einzeltätern bei sexuellem Missbrauch. Etwa, dass Kindern Schuld beziehungsweise Verantwortung zugeschoben werden: Sie hätten das ja so gewollt. Oder dass sie nicht mit anderen darüber sprechen dürfen, sonst drohen schlimme Konsequenzen. Bei der rituellen Gewalt kommt noch ein elitäres Denken hinzu: "Wir sind eine besondere Gemeinschaft. Dass du zu uns gehörst, das zeichnet dich aus. Alle, die nicht zu uns gehören, sind weniger wert. Mit denen sollst du dich nicht abgeben."
Kirchner: Diese Parallelwelt wird bewusst erschaffen. In manchen Gruppierungen sind Familien generationenübergreifend eingebunden. Die Kinder werden hineingeboren, abgerichtet und benutzt.
Kirchner: Das hat verschiedene Gründe. Zum einen, können sich viele Menschen diese Gewaltformen nicht vorstellen. Die Folterungen, die bereits an Säuglingen vorgenommen werden, sind so unvorstellbar, dass man sagt: Das kann es nicht geben. Bei der Kinderpornografie gibt es allerdings Beweise – durch Fotos und Filme.
Kirchner: Dort gibt es nur wenig Dokumentationen, also keine objektiven Beweismittel, die den Strafverfolgungsbehörden vorliegen. Deshalb wird den Aussagen der Betroffenen oft nicht geglaubt.
Kirchner: Das Problem ist, wie gesagt, dass der Druck für Betroffene, nichts von ihren Erfahrungen weiterzugeben, enorm hoch und oft mit Todesangst verknüpft ist. Und dass ihre Aussagen oft sehr verwirrend und widersprüchlich sind aufgrund der Gewaltfolgen. Da Betroffene sehr darunter leiden, ist es für sie sehr schwer, glaubhaft zu sein und Aussagen zu machen, die keinerlei Zweifel lassen.
Kirchner: Es werden mehr, und durch unser Projekt wollen wir eine höhere Sensibilität für dieses Thema erreichen. Nur dann wird es für Betroffene leichter, sich zu öffnen. Bislang sind es nur wenige, die sich trauen.
Kirchner: Da diese Menschen als Kinder durch die Folterungen lebensbedrohliche Erfahrungen gemacht haben, kommt es häufig zu Abspaltungen. Das heißt, es gibt Persönlichkeitsanteile, die im Alltag funktionieren und die sich nicht an die Gewalterfahrung erinnern. Weil andere Anteile quasi die Folterungen ertragen haben. Diese Aufspaltung ist ein Überlebensmechanismus.
Leider wurde von den Medien und teils auch von Opfern und HelferInnen in der Vergangenheit der Eindruck erweckt, Rituelle Gewalt sei mit Satanismus gleich zu setzen. Teufelskulte können eine Rolle spielen, aber die rituell folternden Gruppierungen gehören allen möglichen Sekten und Kulten an.
Zu DDR-Zeiten gab es z.B. in der Region eines Ostseehafens eine militärnahe Sekte, die Minderjährige rituell folterte.
Die sexuellen und ökonomischen Motive sind bei Organisiertem Missbrauch und Ritueller Gewalt ähnlich. Das Rituell-Kultische dient meist lediglich der Verbrämung des eigentlichen Zwecks. Die TäterInnen vollziehen an ihren Opfern gemeinschaftlich gewaltsame und erniedrigende Sexualhandlungen, die oft fotografiert oder gefilmt werden. Sadomasochismus ist recht weit verbreitet, Rituale und Fetische spielen dabei eine zentrale Rolle. Nicht nur in kirchlichen Kontexten lohnt sich eine sexualwissenschaftliche Perspektive.
Priester gehörten zu den ersten, die schon vor dem WK II begannen, ihre Missbrauchsverbrechen zu fotografieren.
"Fand (auch) organisierte sexuelle Ausbeutung/ritueller/ sektenähnlicher Missbrauch statt?"
In ca. 1/5 der mittlerweile 18 000 eingegangenen Anträge auf Hilfen finden sich Merkmale des Tatkontextes "Organisierter Missbrauch". Häufig wird Unterstützung für die Ausstiegsbegleitung benötigt.
Ich halte dies nicht nur für kontraproduktiv bei der Verfolgung und Aufklärung von Gewaltstrukturen sondern auch für gefährlich. Wer derart alarmistisch mit Begrifflichkeiten wie "ritueller Gewalt" hantiert, fördert nicht nur gesellschaftlichem Misstrauen und Paranoia sondern leistet auch Verschwörungsmythen ("Pizza-Connection") und einer Entwicklung Vorschub, wie man sie in den USA seit Jahren beobachten kann.
Wenn Zweifel an Aussagen Betroffener bestehen, dann haben Aussagepsychologen hier mit objektiven Standards für Klarheit zu sorgen.
Die Fälle von Falschbeschuldigungen gibt es nämlich ebenfalls - erinnert sei an den Fall Norbert Kuß oder Horst Arnold. Beides Männer, die völlig zu Unrecht auf Grundlage überaus "glaubhaft" dargestellter massiver Gewaltvorwürfe über Jahre unschuldig im Gefängnis saßen.
M. Deeg
Polizeibeamter a.D.
zur Fachkreisexpertise "Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen" haben auch mit dem Themenfeld "Organisierte Kriminalität" befasste MitarbeiterInnen des BKA beigetragen. Diese Stellungnahme ist im Netz frei abrufbar.
Die vermehrte Aufklärung, die seit 2010 eingesetzt hat und nicht zuletzt der Boom an Kinderfolterfilmen und weiteren vor Gewalt und Perversion strotzenden Darstellungen im Netz führen uns buchstäblich vor Augen, wie verbreitet und tief verwurzelt Missbrauch und Gewalt, Sadismus und Verbrechen sind.
Sich dem stellen zu müssen kann schmerzhaft sein, denn wir Menschen neigen dazu, die bösen, dreckigen und kriminellen Seiten des Sexuellen zu verdrängen. Aber anders sind Prävention, Verfolgung und Ahndung schwerster Sexualstraftaten an Menschen jeden Alters, darunter solche, die nicht verjähren, nicht möglich.
Mit freundlichen Grüßen,
Angelika Oetken, Berlin-Köpenick
Wer auch immer dahinter steckt, den Opfern Organisierten Missbrauchs, Ritueller Gewalt und sektenähnlichen Missbrauchs und deren HelferInnen hat man damit keinen Gefallen getan - evtl. war das auch beabsichtigt.