Es war der damalige Bundespräsident, der vor 35 Jahren sagte: "Nicht behindert zu sein ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann." Nicht nur an diesem Donnerstag, dem europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, ist das Zitat von Richard von Weizsäcker noch immer aktuell.
Dabei sollten wir von Weizsäckers Worte nicht als Bedrohung sehen - sondern als Auftrag, Inklusion und selbst bestimmte Teilhabe behinderter Mitmenschen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft endlich zu verwirklichen. Nicht nur, weil uns allen das Geschenk schon morgen genommen werden kann. Sondern weil eine Gesellschaft nur demokratisch, sozial und gerecht sein kann, wenn sie alle Menschen einschließt - auch die, bei denen das etwas mehr Aufwand bedeutet.
Ist Inklusion in Deutschland nur ein Schlagwort?
Inklusion und selbst bestimmte Teilhabe sind beliebte Schlagworte der Politiker, gelebt aber werden sie viel zu selten. Denn die Betroffenen werden noch immer separiert. Ein Beispiel dafür hat die neue bayerische Sozialministerin Ulrike Scharf kürzlich in der Haushaltsdebatte im Landtag gegeben: Die CSU-Politikerin warb für ihren Haushaltsplan, weil der zuallererst die Familien unterstütze, dann die Jugendsozialarbeit, dann die Menschen mit Behinderung und zum Schluss die Obdachlosen.
Verständlich, wenn da so manche Bürgerin, so manchen Bürger mit einer Beeinträchtigung von Scharfs Einteilung und Reihenfolge irritiert ist. Gehören sie nicht auch zu den Familien? Warum bilden sie eine eigene Gruppe? Warum dürfen Menschen mit Behinderung nicht in erster Linie Kind, Jugendlicher oder Erwachsener sein?
Weil sie es leider noch immer nicht sind. Auch in Unterfranken leben viel zu viele Menschen mit Behinderung in einem Heim statt in ihrer eigenen Wohnung. Noch immer gibt es viel zu wenig geeigneten Wohnraum, weil der Gesetzgeber vor eine eventuell nötige Assistenz zuhause einen großen bürokratischen Aufwand und viele Hürden gesetzt hat. 300.000 Menschen mit einer Behinderung arbeiten in Deutschland in speziellen Werkstätten ausschließlich mit anderen behinderten Kolleginnen und Kollegen zusammen - da ist Deutschland Spitzenreiter in Europa. Der reguläre Arbeitsmarkt hingegen bleibt auch in der Region für Menschen mit Behinderung "exklusiv statt inklusiv", wie Frank Firsching, Regionalgeschäftsführer des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Unterfranken, sagt.
Betroffene, über die entschieden wird, haben keine Stimme
Darum müssen die Betroffenen selbst mitreden und mitgestalten dürfen. Noch immer sitzen in Ämtern Sachbearbeiter, die anhand von Arztbriefen und Gutachten über Menschen entscheiden, die sie nicht kennen, nicht einmal gesehen haben, deren tatsächliche Beeinträchtigung oder Erkrankung sie nur erahnen können. Die Betroffenen haben keine Stimme, können sich nur an Behindertenvertreter wenden, die meistens selbst nicht betroffen sind. Warum sprechen wir nicht viel öfter mit anstatt über behinderte Mitmenschen?
Warum gibt es im Europaparlament nur eine Abgeordnete mit einer sichtbaren Behinderung? Warum sind Menschen mit Handicap in unseren Parlamenten nicht annähernd so häufig vertreten wie ihr Handicap in der Bevölkerung? Weil unsere Sozialgesetze Menschen mit Behinderung nur unterstützen, wenn es um Schule, Ausbildung oder Erwerbstätigkeit geht. Sie sollen zu einem möglichst nützlichen Glied der Gemeinschaft werden. Freizeit, politische Betätigung, Ehrenamt oder Kultur gehören da offensichtlich nicht dazu.
Darum müssen wir unser System, unsere Sozialgesetze ganz grundsätzlich in Frage stellen. Nicht behindert zu sein ist ein Geschenk. Wir sollten es viel öfter mit denen teilen, die es nicht bekommen haben.
Der Autor hat selbst einen durch eine chronische Krankheit mehrfach behinderten Sohn.