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Berlin
Samstagsbrief: Die Gesellschaft hat Fieber, Frau Merkel
Intensiver erklären, kritischer hinterfragen: Die Politik muss mehr tun, damit die Corona-Einschränkungen akzeptiert werden, findet unser Autor. Ein Appell an die Kanzlerin.
Bundeskanzlerin Angela Merkel
Foto: Michael Kappeler, dpa | Bundeskanzlerin Angela Merkel
Benjamin Stahl
 |  aktualisiert: 10.05.2023 10:24 Uhr

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

diese Woche haben Sie in Ihrer Regierungserklärung einen Satz gesagt, der nicht in den Schlagzeilen gelandet ist, aus meiner Sicht aber extrem wichtig war: Die Corona-Pandemie, sagten Sie im Bundestag, "ist eine medizinische, eine ökonomische, eine soziale, eine politische, eine psychische Bewährungsprobe". Ich glaube, dass das in den zurückliegenden Monaten zu oft vergessen wurde: Corona trifft nicht nur unsere Gesundheit und die Wirtschaft, sondern auch unsere Gesellschaft.

Das Virus und die Maßnahmen, die es bekämpfen sollen, haben die Stimmung im Land aufgeheizt. Oder um es medizinisch auszudrücken: Die Gesellschaft hat Fieber. Ich rede hier nicht von den Corona-Leugnern, den Verschwörungstheoretikern, den Möchte-gern-Reichstagsstürmern. Ich rede von normalen, vernünftigen Bürgerinnen und Bürgern, die konkrete Einschränkungen und Regeln, die ihre ganz persönliche Lebenswirklichkeit betreffen, nicht nachvollziehen können.

Da ist der Sportlehrer, der nicht versteht, dass sich seine Schüler gruppenweise in separaten Räumen umziehen müssen, dann aber gemeinsam in einer Halle Volleyball spielen sollen. Da ist der Polizist, der sich fragt, wie er die Einhaltung der Corona-Maßnahmen kontrollieren soll, wenn konkrete Fälle in den Allgemeinverfügungen nicht geregelt sind oder viel Raum für Interpretation bleibt. Da ist die Schauspielerin, die nicht nachvollziehen kann, warum nun Theatervorstellungen verboten, Gottesdienste aber erlaubt sind. Und da ist der Wirt, der vor wenigen Wochen tausende Euro in Heizstrahler investiert hat, um Gäste möglichst lange im Freien empfangen zu können, und jetzt schließen muss. Das alles sind reale Beispiele, die mir von den Betroffenen erzählt wurden. Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen. Und um ehrlich zu sein: In jedem Fall hatte ich größtes Verständnis für mein Gegenüber.

Ich weiß nicht, ob Sie, Frau Merkel, solche Gespräche in Ihrem Umfeld auch erleben. Was ich in solchen Situationen stets wahrnehme, ist vor allem Wut. Nicht krawallartig. Es sind eher kleine Wutviren (Symptome einer Infektion: resigniertes Kopfschütteln, Faust in der Tasche), die sich genauso schnell verbreiten wie SARS-CoV-2: Wenn sich Lehrer, Polizist und Wirt über ihre Probleme unterhalten, nehmen sie die Wut des anderen mit und tragen sie so immer weiter. Eine schwer zu durchbrechende Infektionskette.

Solche Wut-Infektionen, die in der Regel mit verschnupftem Zweifeln an der Sinnhaftigkeit der Maßnahmen generell einhergehen, sind unbehandelt gefährlich für die Gesellschaft und den Einzelnen. Die Vernunft der Bürger, an die Sie, Frau Merkel, in den vergangenen Monaten immer wieder appelliert haben, ist leider ein unzuverlässiges Heilmittel, weil sie in Teilen der Gesellschaft so rar ist wie der Grippeimpfstoff.

Heilung verspricht nur Akzeptanz und Nachvollziehbarkeit der Einschränkungen. Sie sagten es selbst: In den kommenden Wochen und Monaten "wird entscheidend sein, dass möglichst alle verstehen, warum wir in dieser Zeit solche Maßnahmen ergreifen". Ihr Therapieansatz: "Es ist richtig, es ist wichtig, es ist unverzichtbar", dass die Maßnahmen "öffentlich diskutiert, öffentlich kritisiert und öffentlich auf ihre Angemessenheit hin befragt werden". Allein "durch die öffentliche Debatte über die politischen Entscheidungen kann Akzeptanz entstehen". Mein Eindruck ist, dass das Bedürfnis der Menschen nach Transparenz und Erklärungen noch lange nicht gestillt ist.

Als Journalist mache ich mir Gedanken darüber, was Medien in diesen Zeiten beitragen müssen. Ich glaube, wir müssen noch genauer hinschauen und weiter konsequent und kritisch alles hinterfragen. Dafür nehmen wir gerne in Kauf, dass wir Politiker verärgern oder überlasteten Pressestellen noch mehr Arbeit machen. Die Gespräche, von denen ich Ihnen oben berichtet habe, zeigen mir die Notwendigkeit für dieses Tun.

Und die Politik? Die Corona-Maßnahmen treffen jeden sehr individuell. Der Teufel sitzt im Detail. Sie, Frau Merkel, und die Ministerpräsidenten werden es daher nicht immer allen recht machen können und nicht immer sofort auf alles eine Antwort finden. Aber Sie müssen ihre Beschlüsse immer und immer wieder erklären – und sich trauen, sie gegebenenfalls zu korrigieren. Damit wir aus dieser Krise irgendwann herauskommen.

Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand.

Benjamin Stahl, Redakteur

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Kommentare
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  • G. K.
    Heute Nacht, hier im Ort: Partymusik bis nach 04:00 …

    Inzwischen müsste auch der Letzte begriffen haben, dass selbst ein Hygienekonzept Grenzen hat …

    Die Kritik an den Maßnahmen ist absolut berechtigt.

    Aber es ist nicht einfach (für Politiker schon gar nicht und in einem föderalistischen Staat schon mal überhaupt nicht), ein optimales Maßnahmenpaket zur richtigen Zeit auf den Weg zu bringen – und es wäre überhaupt nicht erforderlich, wenn wir nicht dominiert von den Deppen, den Ignoranten und den Egoisten in unserer Gesellschaft in diese Welle gezogen würden.

    Die Politik macht gerade genau das, was von ihr zu erwarten war. Wir hätten diese Pandemie kontrollieren können – mit ein wenig mehr Verstand, ein wenig mehr Disziplin und ein wenig mehr Eigenverantwortung. Aber anstatt uns davon leiten zu lassen, was sinnvoll und vernünftig wäre, haben wir uns zu sehr an dem orientiert, was verordnet bzw. als zulässig angesehen wird.

    Und jetzt jammern wir über das Ergebnis ... echt jetzt?
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  • A. H.
    erklären: ja natürlich, und das tut sie doch auch permanent; aber was hilft das, wenn ihr zu viele nicht zuhören..
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  • F. A.
    Warum hat die Gesellschaft Fieber Herr Stahl? Weil sich viele Teile dieser Gesellschaft nicht an die Vorgaben halten! Leider sind auch große Teile der jungen Generation disziplinlos.
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  • K. F.
    Fazit:
    Unsere Politik allein kann dieses Virus nicht besiegen, was wir dagegen aufgebieten können, ist einzig und allein ein gewaltiger Kraftakt von uns ALLEN(!) u. dieser ist angesichts der aktuell schwer beherrschbaren Krisensituation mehr als notwendig. Resignation wäre der vollkommen falsche Weg! Wir als Solidargemeinschaft sind auch gefordert, jeden Einzelnen zu unterstützen, den es wo auch immer besonders hart trifft, aber vergessen wir alle dabei generell nicht, eine todkranke kraftlose Gemeinschaft kann keine gesunde Wirtschaft auf die Beine stellen.
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  • K. F.
    Die selbstheilenden Kräfte der Natur, die immer in Angriff- und Lauerstellung stehen, sind nicht selten extrem schmerzhaft für deren Opfer, seien dies Pflanzen, Tiere, schwer zu begreifen, ereilt dies gerade das „Intelligenzpaket“ des modernen Homo sapiens selbst.

    Nicht nur Deutschland leidet, die Menschheit weltweit leidet, wir leben hier auf keiner glückselig abgeschotteten Insel der von einer solchen allgewaltigen Pandemie Verschonten. Unsere Gesellschaft hat Fieber, lieber Herr Stahl, da haben Sie sicherlich absolut recht; gerade über Europa hinweg fegt nun aber der Flächenbrand von COVID-19. Wagt nur innerhalb der Grenzen Europas einen aufmerksamen Blick nach Italien, nach Belgien, ein EU-Land, das es aktuell am härtesten trifft, mittlerweile jeder 4. Bürger wird dort positiv getestet, dieses unermessliche Leid, das diese Menschen ereilt.
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  • K. F.
    richtigerweise: jeder 4. getestete Belgier ist positiv, die Dunkelziffer dürfte allerdings noch höher liegen.
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