Das Spannende an den Wiederaufnahmen in Bayreuth ist, dass es in Bayreuth keine Wiederaufnahmen gibt. Zumindest keine im strengen Sinne des Wortes. Es gilt das Prinzip Werkstatt Bayreuth, das bedeutet, die Regisseure arbeiten jede Saison nochmal neu an ihren Inszenierungen – was unterschiedlich tiefe Eingriffe zur Folge hat.
Uwe Erik Laufenbergs „Parsifal“ hat in seinem dritten Jahr weiter an Profil gewonnen. Schon 2017 hatte Andreas Schager als Nachfolger von Klaus Florian Vogt der Titelrolle eine gehörige Portion mehr Zerrissenheit verpasst. Nun scheint es, als wolle Laufenberg das Motiv „Aus Mitleid wissend“ noch stärker herausarbeiten. Etwa indem er im ersten Aufzug sehr drastisch zeigt, wie Unwissen zu Mitleidlosigkeit und Mitleidlosigkeit zu Grausamkeit führt.
Laufenbergs drastisch formulierte Frage nach unser aller Mitgefühl
Genau in dem Moment, als Parsifal, der unwissende Tor, draußen, den Blicken entzogen, den Schwan schießt, bricht mitten auf der Bühne ein kleiner Junge tot zusammen. Er trägt ein rotes T-Shirt und blaue Hosen und bleibt genau so liegen wie vor drei Jahren der dreijährige Aidan Kurdi aus Syrien am türkischen Strand. Sein Bild ging um die Welt – Laufenberg stellt ganz direkt die Frage, was denn diese Welt aus diesem Wissen gefolgert hat.
Stärker auch die Dreierkonstellation Gurnemanz, Kundry (einmal mehr umjubelt: Elena Pankratova) und Parsifal und als kollektiver Gegenpol der mächtige Männerchor, der mit seiner Forderung nach Enthüllung des Grals immer mehr zum Denkmal des Egoismus mutiert. Der großartige Günther Groissböck singt einen sämigeren Gurnemanz als Georg Zeppenfeld, weniger verhärmt ist die Figur deshalb nicht.
Thielemanns Interpretation zwischen leiser Hoffnung und fiebrigem Wahn
Dass Parsifal seinerseits erst sehr, sehr spät zum Wissen aus Mitleid findet, auch das wird stärker deutlich als zuvor. Vielleicht nicht unbedingt, weil Schager nochmal anders spielt, sondern, weil die Regie im ersten Aufzug ein machtvolles Signal gesetzt hat, dem sich kein Besucher entziehen können dürfte. Eine nicht ungefährliche Aktion, wie immer, wenn aktuelle Ereignisse explizit in eine Oper eingefügt werden. Hier aber funktioniert sie. Semyon Bychkov dirigiert einen weitaus plastischeren „Parsifal“ als in den Vorjahren Hartmut Haenchen, schön ausformuliert und dennoch sängerfreundlich.
Christian Thielemann wiederum scheint sein Konzept des „Tristan“ von Jahr zu Jahr gleichermaßen zu intensivieren und zu differenzieren. Immer feiner die Abstufungen auf der riesigen Skala zwischen leiser Hoffnung und fiebrigem Wahn – das maximal engagierte Festspielorchester in Bestform.
Katharina Wagners düstere Abrechnung mit dem Konzept Liebe
Katharina Wagners „Tristan“ provoziert auch im vierten Jahr noch einige – unverdiente – Buhs. Man kann diese düstere Abrechnung mit dem Konzept Liebe, die Tristan und Isolde (sängerisches Traumpaar: Stephen Gould und Petra Lang) kaum einen Moment des Glücks gönnt, ablehnen, auseinandersetzen muss man sich mit ihr. Und ein Buh ist da keine qualifizierte Stellungnahme. Die Aussichtslosigkeit dieser Beziehung ist immer wieder bedrückend, selten aber sind Gefangenheit, Verlust und Trauer auf der Bühne so direkt zu erleben.
Immerhin: René Pape, der sich heuer mit Georg Zeppenfeld die Rolle des Marke teilt, darf in diesem letzten Moment, wenn der König seine Braut Isolde vom toten Tristan wegzerrt, ein ganz klein wenig weniger brutal zulangen. Ein „Liebestod“ im sehr übertragenen Sinne – weit beklemmender als es der wörtlich genommene je sein könnte.
Barrie Koskys grundsätzliche Entlarvung des Antisemitismus
Am tiefsten eingegriffen hat Barrie Kosky bei seinen „Meistersingern“, die vergangene Saison Premiere hatten. Der zweite Aufzug ist kaum wiederzuerkennen, die vorweggenommene, dschungelhafte (Fest-)Wiese ist einem öden Raum gewichen, der sich, auch das ist neu, schon zum Ende des ersten Aufzugs als Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse zu erkennen gibt. Viel stärker wird nun Koskys Hauptmotiv deutlich: Es geht um Dazugehören und Ausgrenzen. Es geht um Beharren und Erneuern. Und es geht um die Frage echter Persönlichkeit, nicht nur im künstlerischen Sinne. Schon Stolzings (silbrig hell, mitunter aber ein wenig kurzatmig: Klaus Florian Vogt) erstes Vorsingen gerät zum Lehrstück in Sachen Intoleranz. Die Meistersinger sind bei all den wunderbaren Albernheiten, die ihnen Kosky andichtet, ein missgünstiger, zerstrittener und, ja: fremdenfeindlicher Haufen.
Das Schlussbild des zweiten Aufzugs mit dem riesigen Ebenbild der Titelfigur aus Veit Harlans Nazi-Machwerk „Jud Süß“ hat nichts von seiner Schockwirkung verloren. Was Kosky zeigt: Antisemitismus ist keine isolierte Einstellung ansonsten möglicherweise aufrechter Menschen. Antisemiten sind immer ganz und gar gemeine, engherzige und gerne auch gewaltigtätige Menschen.
Michael Volles alles beherrschender Hans Sachs
Doch es ist der Hans Sachs, mit dem sich die interessanteren Fragen stellen – um ihm bündeln sich all die Fliehkräfte, die entstehen, wenn ein neues Zeitalter ein altes ablöst. Aus dieser unglaublich opulenten, turbulenten, witzigen und warmherzigen Inszenierung, die auch dem kongenial von Johannes Martin Kränzle verkörperten Beckmesser ihre Chance gibt, ragt letztlich nur einer heraus: der atemberaubende Michael Volle, dessen Sachs in jeder Sekunde, jeder Geste und natürlich jedem Ton sowohl moralischer Kompass als auch Sinnbild der Zerrissenheit ist.