Lange Gesichter nur in den Reihen mit hoher Kritikerdichte. Begeisterung zeigen auf dem Grünen Hügel gilt als unprofessionell. Ein solcher Fehler unterläuft nur Anfängern. Allenfalls ganz zum Schluss ist ein dezentes „Buh“ für irgendeine Nebenrolle drin. Nach dem ersten Akt fallen diesmal sogar böse Worte wie „oberflächlich“ und „klamaukig“. Ansonsten: Jubel schon zur ersten Pause der Premiere der „Meistersinger von Nürnberg“ (und zum Schluss) in der Regie von Barrie Kosky. Ungewöhnlich bei den Bayreuther Festspielen.
Kosky, Australier und Chef der Komischen Oper Berlin, ist der erste Jude, der in Bayreuth inszeniert. Darüber ist im Vorfeld viel geredet und geschrieben worden.
Und dann ausgerechnet die Meistersinger, die man nicht in eine Fantasiewelt verpflanzen kann wie Ring, Parsifal oder Tristan. Nürnberg ist der Schauplatz, und das ist er auch bei Barrie Kosky, aber ganz, ganz anders als erwartbar.
Doch zunächst sind wir im überladenen Salon von Haus Wahnfried. Cosima hat Migräne, Richard packt ein Versandpaket nach dem anderen aus – seine Vorliebe für Parfüms und edle Stoffe (namentlich seidene Damenunterwäsche) ist bekannt. Schwiegervater Franz Liszt ist auch da, und als er sich mit Richard am Flügel ein vierhändiges Duell zu den Holzbläser-Einschüben im Vorspiel liefert, ahnt der Zuschauer: Das hier könnte interessant werden.
Wagner schurigelt Levi
Und kurzweilig. Aus dem Flügel klettern Wagners in allen Größen, und während des Gottesdienstes schurigelt der Haupt-Wagner den Dirigenten Hermann Levi, weil der als Jude nicht weiß, wann man zu knien, zu stehen und zu sitzen hat. Unmerklich dann der Schwenk aus dem – freilich verfremdeten – Historienspiel in die eigentliche Oper: Wagner wird zu Hans Sachs, Cosima zu Eva, Levi zu Beckmesser, Liszt zu Veit Pogner.
Barrie Kosky hat ein untrügliches Gespür für Timing – das weiß man spätestens seit seiner wunderbaren Berliner „Zauberflöte“, in der er kurzerhand die ermüdenden Singspiel-Dialoge gestrichen hat.
Diesmal beweist er es zum Ende des ersten Akts: Gerade in dem Moment, in dem man sich fragt, ob denn die ganze Oper in der kleinen Wahnfried-Box spielen soll, fährt diese mitsamt zum Tableau gefrorenem Personal zurück und gibt Raum für einen weiten, vage vertrauten Saal mit Holzpaneelen und medaillongekrönten Türen. Die Bühne von Rebecca Ringst hat noch einige Überraschungen auf Lager.
Im zweiten Akt sehen wir den Saal wieder – überwuchert von üppigem Grün, als habe die Natur sich einen Ort wiedererobert, an dem der Mensch nichts mehr zu suchen hat. Und dann wird es ernst: Natürlich ist Beckmesser ein nerviger, intriganter, gemeiner, egozentrischer Streber – eines jener Subjekte, von denen jeder sich insgeheim wünscht, dass ihm eine gerechte Strafe widerfahre. Hier wird er bekanntlich zusammengeschlagen. Doch nicht nur das: Beckmesser/Levi bekommt vom entfesselten Volk einen Judenkopf aufgesetzt, der sich auch noch auf das raumfüllende Ebenbild der Titelfigur aus Veit Harlans Nazi-Machwerk „Jud Süß“ aufbläht.
Pogromstimmung in Nürnberg
Musikalisch sind diese „Meistersinger“ das reine Glück – Philippe Jordan dirigiert ein berauschend frisches, präzises, farbenreiches und herrlich unmonumentales Orchester, dem der Chor in nichts nachsteht.
Sieht Kosky die Oper als „antisemitisches Propagandawerk“ („Die Welt“)? Dazu steckt er zuviel Liebe und auch zu viel Wut in die Figuren. In die Meistersinger, die putzig eitle (und gelegentlich headbangende) Popstars in samtenen Wämsern sind. Den notorisch unparteiischen Stolzing, den Klaus Florian Vogt strahlend zur Tenor-Bravour-Partie macht. Die liebenswert zappelige Eva, die Anne Schwanewilms wohltuend unschrill singt (wofür sie ein paar vollkommen unverdiente Buhs ernten wird).
Ein Gerichtssaal als Mahnmal
Den letztlich bedauernswerten Beckmesser, den Johannes Martin Kränzle zum Lehrstück komödiantischer Präzision macht. Und natürlich den Hans Sachs – Michael Volle in absoluter Hochform, stimmlich, schauspielerisch, menschlich. Die Ikone deutschen Kulturbewusstseins schlechthin als zerrissener Zweifler – vielleicht liegt hier der Schlüssel dieser bunten und vielschichtigen Inszenierung.
Im dritten Akt bestätigen sich Ahnungen: Der Saal ist der Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse. Hier, vor den Fahnen der vier Siegermächte, vor der rasend rückwärts laufenden Wanduhr, findet – in Renaissance-Kostümen (Klaus Bruns) – der Wettgesang statt. Angeklagt ist in diesem Saal – vorgeblich – Hans Sachs („Ich bin verklagt und muss bestehn...“).
Doch seine Reinwaschung ist reine Formsache. Kosky und Ringst steigern das Beklemmende der Örtlichkeit, indem sie Sachs die Huldigungen des Volkes – den zum Orchester mutierten Chor dirigierend – mutterseelenallein entgegennehmen lassen.
Der Saal der Nürnberger Prozesse ist ein Mahnmal. Eine Warnung nicht nur vor dem Antisemiten Richard Wagner. Sondern vor dem Richard Wagner in uns allen.