Amfortas mit Dornenkrone, die Arme ausgebreitet wie der Gekreuzigte, die nicht heilen wollende Wunde an genau der Stelle, an der einst der Legionär Longinus den Heiland in die Seite stach. In diese Stelle stechen den Gralskönig Amfortas seine Gralsritter immer und immer wieder, um dann sein Blut zu trinken. So viel direkte Analogie, so viel wörtliche Erlösungssymbolik, das ist manchen dann doch zu viel – eine Kritikerin aus Japan jedenfalls ist regelrecht erbost. Uwe Eric Laufenberg verantwortet die einzige Neuinszenierung dieser Bayreuther Festspiele: „Parsifal“ hat am Montag das Opernfestival eröffnet – aus Respekt vor den Opfern der jüngsten Gewalttaten ohne roten Teppich und ohne Staatsempfang hinterher.
Ein Dalai-Lama-Zitat als direkte Handlungsanweisung
Vor diesem Hintergrund wirkt das Dalai-Lama-Zitat im Programmbuch geradezu prophetisch: „Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen hätten.“ Laufenberg nimmt dies als direkte Handlungsanweisung – zum Schluss werden sich Christen, Juden und Muslime ihrer Glaubenssymbole entledigen und gemeinsam in eine – freilich ungewisse – Zukunft schreiten, Parsifal, der erlöste Erlöser, als gesichtsloser Teil der gesichtslosen Masse.
Damit wäre die Pointe dieses „Parsifal“ bereits verraten. Die Sünden, die Schmerzen, die Schuld, der Kult – all das ist zum Schluss hinfällig. Aber, um mit Konfuzius in fernöstlichen Gedankenwelten zu verweilen: Natürlich ist auch hier der Weg das Ziel.
Christliche Ritter in der Diaspora
Laufenberg siedelt die Gralsritter als mönchische Gemeinschaft in der christlichen Diaspora an, allerdings ohne einen expliziten Konflikt zwischen Christen und Muslimen aufzubauen – eine spektakuläre Videofahrt aus der verfallenden Kirche einmal hinaus in den Weltraum und wieder zurück lässt Mossul im Nordirak als Standort erahnen. Die Ritter kümmern sich um Bedürftige, Displaced Persons, wie sie wohl die amerikanischen GIs nennen würden, die hin und wieder sichernd den Schauplatz durchstreifen – es bleibt, wie meistens in der realen Gegenwart auch, unklar, ob sie Befreier oder Besatzer sind.
Man kennt diese Bilder von CNN – Menschen ohne Perspektiven in den Trümmern ihrer Existenzen. Umso sinnentleerter müsste vor diesem Hintergrund der Gralsritterkult wirken, doch Laufenberg gelingt es, in der vertraut trostlosen Bühne von Gisbert Jäkel eine Art selbsterklärender auratischer Logik aufzubauen. Das Finale des ersten Aufzugs ist vielleicht der stärkste Moment dieser Inszenierung. Wesentlichen Anteil daran hat Georg Zeppenfelds Gurnemanz, der ganz zum Schluss, noch vor Klaus Florian Vogts Parsifal, den stärksten Applaus bekommen wird. Seine unglaublich klare, tragende, präzise Stimme verleiht der Figur auch da Glaubwürdigkeit, wo der Regie die Einfälle ausgehen, etwa während Gurnemanz' langer Erzählung „Titurel, der fromme Held. . .“
Es dominieren Persönlichkeiten und Stimmen
Es sind überhaupt die Personen, die Persönlichkeiten, die über manch klischeehafte, mitunter auch unverständliche Wendung hinweghelfen – was wiederum vor allem Verdienst der Stimmen ist. Ryan McKinny darf seinen Amfortas zu Beginn tatsächlich mit ermattetem Timbre singen. Elena Pankratovas stimmlich makellose, wenn auch textlich kaum verständliche Kundry ist weniger sinnliche Verführerin denn berechnende Machtfrau.
Klaus Florian Vogts Parsifal strahlt von Anfang an die Kraft aus, mit der er schließlich – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – die Mauern des Aberglaubens sprengen wird. Laufenberg lässt die Figur kaum persönliche Wandlung geschweige denn Erweckung durchlaufen. Er gibt all der Kraft einfach ein Ziel, und damit ist das Phänomen Parsifal im Grunde schon erklärt. Was dennoch fasziniert, ist Vogts schiere Präsenz, die großartige Stimme, die in jeder Lage und Lautstärke maximale Klarheit, maximale Verständlichkeit, maximale Kontrolle und, so gewollt, maximalen Glanz hervorbringen kann.
Das Zauberische spielt keine Rolle
Wie das Zauberische im weiteren Verlauf ohnehin keine allzu große Rolle spielt. Klingsors Gegenwelt ist ein islamisch gekachelter Harem, bewohnt von Frauen wahlweise im Tschador, wahlweise im Bauchtanz-Outfit. Klingsor selbst versucht wohl ein-, zweimal auf einem Teppich zum Gebet niederzuknien, bricht dann aber ab und nimmt, sich selbst geißelnd, Zuflucht zu einer Vitrine voller Kruzifixe – Beutestücke, Devotionalien oder Reliquien, auch das wird nicht ganz klar.
Gerd Grochowski macht diesen Klingsor zur vielleicht interessantesten Figur: zerrissen, verbittert, ziellos. Kaum vorstellbar, dass sich an dieser Ziellosigkeit etwas ändern würde, gelänge es Kundry doch noch, Parsifal zu verführen. Die kopuliert stattdessen mit Amfortas, eine irgendwie sinnlose Aktion.
Im dritten Aufzug mehren sich die Belege für die Müßigkeit allen menschlichen Strebens: Regenwald wuchert in die Gralsburg hinein, nackte Frauen im Regen vermitteln eine Art Zurück-zur-Natur-Botschaft.
Mehr zur Atmosphäre auf dem Grünen Hügel
Vermutlich muss man nicht jedes Bild, jedes Detail dieser Inszenierung entschlüsseln. Laufenbergs Grundidee wird ohnehin überdeutlich. Was wiederum Räume für die Musik eröffnet.
Hartmut Haenchen, kurzfristig eingesprungen für Andris Nelsons, dirigiert einen straffen, homogenen, transparenten, zielgerichteten und blitzsauberen „Parsifal“ im Orchester wie im Chor – unsentimental und deutlich weniger beseelt als etwa Barenboim in Berlin, dafür mit interessanten Anklängen an die Musikgeschichte. So erinnern manche Passagen in ihrer pragmatischen Griffigkeit an barocke Accompagnato-Rezitative.
Ein diesseitiger „Parsifal“ also, bei dem Jubel und Bravi schließlich ein paar plichtbewusste Buhs übertönen. Dem es aber nicht gelingt, den Verdacht zu entkräften, dass hier Spiritualität mit Politik verwechselt wird. Doch wie so oft bei Wagner trägt auch hier die Kraft der Musik den Sieg davon. Schließlich braucht der Mensch sich nicht wirklich den Kopf zu zerbrechen, womit und wovon er erlöst werden möchte, wenn er sein irdisches Dasein damit zubringen darf, solchen Klängen zu lauschen.